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"Die unten tun nicht mehr, wie sie sollen, und die oben können nicht mehr, wie sie wollen." Lenins klassische Definition einer "revolutionären Lage" passt haargenau auf die Entwicklung in Arabien. Die strategische Auswertung einer ansteigenden "revolutionären Flut" formulierte Mao Zedong nicht minder klassisch: Es bedarf einer "Kristallisationsparole", um die Massen erst zu mobilisieren, dann zu organisieren und schließlich zu militarisieren. Beide erfolgreichen Revolutionäre verstanden unter "Kristallisationsparole", dass eine konspirative Kaderpartei die Massen mit Agitation und Propaganda zu einer "revolutionären Flut" aufpeitscht und die Revolution gewaltsam zum historisch unausweichlichen Sieg führt.
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In Tunesien und Ägypten gelang die taktisch ungemein clever konzipierte gewaltfreie "elektronische Revolution" des Serben Srdja Popovic und seiner Mitarbeiter in der Organisation Otpor. Die Armee griff nämlich nicht zum Schutz der Machthaber ein und sympathisierte sogar mit den aufgebrachten Massen. Also begriffen "die oben", dass sie in der "revolutionären Flut ersaufen", wie Mao das drastisch beschrieben hatte.
Hingegen stieß der gewaltlose "Aufstand der Massen" nach Popovics populärem Konzept in Libyen, Syrien und im Jemen vorerst an strategische Grenzen. Die Armee griff mit weit überlegenen Truppen und Waffen rücksichtslos ein. Dem haben die Rebellen nichts entgegenzusetzen. Sie kämpfen mit dem Mut der Verzweiflung und erleiden schwere Verluste.
Stehen die Truppen und ihre mit Privilegien verwöhnten Kommandeure zum Machthaber, braucht es Desertionen von Soldaten und Hilfe von außen. Libyen bietet dafür ein ebenso plakatives wie tragisches Beispiel. Hingegen stehen die rebellischen Massen in Syrien und im Jemen (vorläufig?) allein auf aussichtslosem Posten, weil ihnen niemand hilft. Und dem winzigen Bahrain springen ausrechnet die Saudis mit massiver Militärhilfe bei, damit der revolutionäre Sturm nicht die Ölscheichs in Riad hinwegfegt.
Popovic und seine gelehrigen arabischen Schüler begeistern sich am Erfolg des gewaltlosen Revolutionärs Gandhi über die britische Kolonialherrschaft. Sie scheinen zu übersehen, dass dem großen Mahatma der stärkste Alliierte im britischen Imperium beisprang: die britische Presse, noch dazu im politischen Machtzentrum London.
Den in Tunesien und Ägypten erfolgreichen Rebellen macht nun ein gefährlicher Gegner zunehmend zu schaffen: Die Agrarpreise steigen weltweit dramatisch, allein für Getreide um rund 40 Prozent. Was immer die Gründe dafür sind - politisch ins Gewicht fällt, dass die Millionenheere der Armen zunehmend Hunger leiden. Wen begeistert politische Freiheit, wenn Mütter nicht genug Brot für ihre hungernden Kinder haben? Was bringt Freiheit, wenn diese Länder nirgendwo auf dem Weltmarkt preisgünstig an Getreide kommen?
Folgt also der "elektronischen Revolution" ein Aufstand der Hungernden?
Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".