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Die Lektion vom Westbahnhof

Von Isolde Charim

Gastkommentare
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien.
© Daniel Novotny

Wenn die Zivilgesellschaft die Politik überholt.


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Mit Blick auf die bewegenden Szenen am Westbahnhof schrieb Walter Hämmerle in der "Wiener Zeitung": "Die Demokratie in der Postmoderne braucht auch positive emotionale Anknüpfungspunkte." Eine kluge Bemerkung. Ich möchte noch hinzufügen: Dies gilt nicht nur für Flüchtlinge, die hier neu ankommen. Es gilt auch für die, die hier bereits leben.

In diesem Sinne sollte man die "Tage vom Westbahnhof" nochmals betrachten: Was bedeuten diese Ereignisse für uns? Denn es ist klar, dass ein derart intensives kollektives Geschehen Auswirkungen auf eine Gesellschaft hat.

Was also ist die Lektion vom "Westbahnhof"?

Es hat sich gezeigt: Politik ist selbst in angeblich postdemokratischen Zeiten keine Einbahn, die nur von oben nach unten verläuft. Es kann auch heute die Bevölkerung die Politiker vor sich hertreiben (und durchaus auch in eine unerwartete Richtung). Wobei Bevölkerung dabei das falsche Wort ist. Es ist die Zivilgesellschaft - also jene, die sich mit ihrem freiwilligen politischen Handeln im öffentlichen Raum engagieren.

Und was diese Zivilgesellschaft vorgeführt hat, ist ebenso unerwartet wie beeindruckend. Sie hat ohne Krisenstab eine effiziente Organisation auf die Beine gestellt, die sowohl die Unterstützung der Flüchtlinge vor Ort (wo auch immer dieser Ort ist: am West- oder am Hauptbahnhof, an der ungarischen Grenze) als auch den Informationsfluss zu allen Interessierten und Engagierten (wo wird was gebraucht?) schnell und effizient organisiert. Die Zivilgesellschaft konnte das aber nur machen, weil sie die Leute mobilisieren konnte. Das ist eigentlich eine völlig missverständliche Formulierung. Denn es sind nicht hier die Leute (passiv) und dort die Zivilgesellschaft (aktiv). Die Leute haben sich vielmehr selbst mobilisiert. Das ist der springende Punkt. Sie haben sich von alleine in Bewegung gesetzt. Das ist das, was Politik - also Parteipolitik - heute kaum mehr vermag. Die Parteien scheinen abgeschnitten von dieser Ressource, die die Zivilgesellschaft ausmacht: jene Selbstmobilisierung, die man nicht verordnen kann. Jene Mobilisierung, die aus einer Emotion heraus, die Leute in Bewegung setzt.

Es sind aber nicht nur neuartige Aktionen, die da spontan entstanden sind. Es ist nicht nur eine neue Stimmung eingezogen. Es ist auch zu einer Verbindung der unterschiedlichsten Akteure gekommen: Aktivisten neben hedonistischen Bobos, Caritas neben Charity-Volk, Linke neben der Freiwilligen Feuerwehr, Privatpersonen neben den ÖBB. Diese Allianzen sind nicht nur neuartig. Sie stehen auch quer zu allen Parteien. Wie quer zeigen die Postings, die gerade auf Facebook Furore machen: Da posten Haiders Freunde Peter Westenthaler und Stefan Petzner mit jugendlichen Flüchtlingen oder über ihre Besuche am Westbahnhof.

Ohne jetzt ein neues Wir zu beschwören. Ohne in einen neuen Patriotismus zu verfallen. Kurzum - in aller Nüchternheit (zu der man in so einem Ausnahmezustand noch fähig ist) muss man feststellen: Vielleicht ist dieses Land gar nicht so, wie es uns die FPÖ immer glauben machte. Vielleicht ist die Politik diesem Glauben fälschlich gefolgt. Vielleicht sind die Leute nicht so, wie auch die Medien in diesem Sog immer meinten. Vielleicht sind die Österreicher doch ganz anders.