Joachim Gauck soll am 18. März zum deutschen Bundespräsidenten gewählt werden. Er würde Deutschland den historischen Spiegel vorhalten.
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Schon zweimal hat Deutschland die Chance vertan, sich im Spiegel der Geschichte zu betrachten. Das erste Mal, als es mit der Dolchstoßlegende die Kriegsverbrechen des Ersten Weltkrieges relativierte. Das zweite Mal am Ende des Zweiten Weltkriegs, als es den Marschallstab gegen die Cola-Dose eintauschte und im Wirtschaftswunderrausch zur Tagesordnung überging, als habe es Nazideutschland nie gegeben. Der Untergang der DDR ist die letzte Chance, sich dem Spiegel der Geschichte zuzuwenden, um Bilanz zu ziehen.
Mit dem Bundespräsidenten in spe Joachim Gauck tritt bald eine Person an die Spitze dieses Staates, die Geschichte gelebt und die friedliche Revolution in der DDR mit geformt hat. Er folgt auf den glücklosen Christian Wulff, der sich selber seines Amtes beraubt hat und als Bundespräsident mit der kürzesten Amtszeit in Erinnerung bleiben wird.
Gauck stieg auf zum politischen Fixstern in der DDR, weil er mit der Macht des Wortes von der Kanzel herab der SED-Nomenklatura die Stirn bot. Er fühlt sich nur seinem Gewissen und der Freiheit verpflichtet - und zwar frei vom Filz parteipolitischen Denkens. Er ist ein Philosoph - was ihn von seinem Vorgänger Wulff unterscheidet, der den Waffenrock des Parteisoldaten nie abgelegt hat.
Der ehemalige Bundespräsident Wulff ist der Vertreter einer politischen Klasse, die dem Diktat des Turbokapitalismus keine Vision mehr entgegenzustellen vermag. Das Ende der Ideologien scheint sich abzuzeichnen - eine Diskussion, die immer wieder aufflammt, wenn Politik mit Phrasenrhetorik die Realität analysiert. Ideologien, deren Wertefundament infolge der Französischen Revolution auf den drei Pfeilern "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ruht. Die Ideologie ist das Ergebnis einer historischen Auffälligkeit oder Abnormität. Sie ist ihr Beginn. Kraft eines Exponenten lässt sich ihre Richtung lenken. Es gab Beispiele für ideologische Fehlleitungen, erinnert sei an Hitler, Stalin und Mao Tsetung, aber es gibt auch Licht, wie die jüngste Entwicklung an der Arabischen Straße zeigt. Ohne Ideologien gäbe es keine Freiheit.
Christian Wulff war in der Welt des Machbaren verhaftet, die bereit ist, die Ideologien dem Vorteil zu opfern. Eine Politik ohne Vision mündet in Sinnentleerung und hat ihren Preis im Seinsverlust. Darüber musste Wulff und würde auch jeder andere stolpern. Er ist über seine Sicht der Dinge zu Fall gekommen, nicht über die Dinge selbst. Sigmund Freud hat dieses Versagensprinzip in einem Aufsatz sehr eindrucksvoll dargestellt, der 1916 unter dem Titel "Die am Erfolge scheitern" in der Zeitschrift "Imago" erschien. Das sinnentleerte Streben nach einer persönlichen Maxime verkehrt sich bei deren Realisierung in sein Gegenteil - weil das Ziel wegfällt, die Desillusion aber bleibt. Die Selbsttäuschung wirft ihre Schatten über die Psyche. Das bleibt auch einem Volk nicht verborgen. Ein Präsident Gauck ist ein Glücksfall, denn er bringt den Spiegel gleich mit ins Amt. Irgendwann muss sich das Land einmal umblicken. Es ist die letzte Chance.