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Langsam tastet sich der weiße "Wolga", eine sowjetische Automarke, über die Dorfstraße von Spas-Setschino, die einer Buckelpiste gleicht. Links und rechts der Straße das für Russland so typische Bild: Holzhäuser, teils geschmackvoll bemalt. Fenster, deren Rahmen auf künstlerische Gestaltungskraft der Bewohner schließen lassen. Kein Kitsch. Ein Ziehbrunnen. Immer wieder auch windschiefe Häuser, die - augenscheinlich unbewohnt und ohne ausreichendes Fundament - verwittern und, fast wie die Titanic, in eine Richtung sinken. Weniger pittoresk ist die Gasleitung für die Holzhäuser, die hier oberirdisch verläuft. Am Horizont zeichnen sich Umrisse einer Kirchenruine ab.
Dmitri Bikaschow liebt das rund 290 km östlich von Moskau gelegene Dorf. Die Gegend liegt im Herzen Russlands: Nicht weit von hier fließt der Fluß Oka vorbei, schon als breiter Strom, und mündet bei Nischni Nowgorod in die Wolga. In unmittelbarer Nähe liegt die sehenswerte Stadt Murom, die zum "kleinen Goldenen Ring" gehört und bedeutende Klöster beherbergt. Wladimir und Susdal - jene Städte, die noch vor dem Aufstieg Moskaus das Zentrum des alten Russland bildeten - sind nicht weit entfernt.
Doch den 47-jährigen Moskauer, der eines der Holzhäuser in Spas-Setschino besitzt, streift beim Gedanken an das geliebte Dorf, das er mit seinen Kindern immer wieder aufsucht, die Melancholie. "Ich habe Pläne gesehen aus der Zeit vor der Revolu- tion, zur Zeit der Stolypinschen Reformen. Damals gab es hier fünf Straßen, heute eine. Und 250 Höfe. 250! Jetzt leben neben ein paar Städtern wie mir, die bloß ab und zu herkommen, nur noch zehn Familien dauerhaft hier. Und wer weiß, wie lange noch", seufzt Dmitri. "Armes Russland."
Der energische Reformer
Armes, verarmtes Russland! Vor 100 Jahren war die Lage im Dorf noch anders. Damals, als von 1906 bis 1911 mit Pjotr Stolypin ein energischer Mann das Amt des Premierministers bekleidete. Mit seinen Agrarreformen brachte er Linke wie Rechte, Sozialrevolutionäre wie Gutsbesitzer gegen sich auf. Das Zarenreich glich damals einem Druckkochtopf: Allein im Jahr 1906 verübten Nihilisten und Umstürzler 1400 politische Morde. Stolypin selbst überlebte 20 Attentatsversuche. Das 21. Attentat am 14. September 1911 war tödlich. Doch seine mit Entschlossenheit durchgeführten Reformen zeitigten Erfolg: Die Getreideernte stieg von 1900 bis 1913 von drei auf fünf Milliarden Pud (ein russisches Gewichtsmaß, das 16,38 kg entspricht). Lenins Wegbegleiter Leo Trotzki sollte später urteilen, dass die Politik des Premiers in der Agrarfrage beinahe der bolschewistischen Revolution den Boden entzogen hätte.
Der im April 1862 in Dresden geborene Pjotr Arkadjewitsch Stolypin entstammte einem alten Adelsgeschlecht. Sein Vater, der häufig Gast beim Dichter Leo Tolstoi war, leitete das Hofamt in Moskau. Stolypin machte schnell Karriere. 1903 wurde er als Gouverneur nach Saratow in die Wolga-Region berufen. Das Gebiet wurde damals das "rote" genannt, in dem die revolutionäre Gärung besonders stark war. Als es 1905 infolge der militärischen Niederlage gegen Japan in Russland zu Aufständen kommt, lässt der konservative Gouverneur die Rebellion niederschlagen und macht so von sich reden. Stolypin wird Innenminister. Seine Auftritte in der Duma erregen das Publikum. Im Gegensatz zu seinen Kollegen im Ministeramt - allesamt biedere Beamte - ist Stolypin ein brillanter Redner. Seine Reden "enthielten ein fest umrissenes Verständnis von den Rechten und Pflichten der Macht", urteilt Gorbatschow-Berater Alexander Jakowlew. Auch das Wort "Perestroika", Umgestaltung, hat Stolypin bereits verwendet.
Unhaltbare Traditionen
Es gärte an allen Ecken und Enden im Land: Zwar hatte der "Befreier-Zar" Alexander II. die Leibeigenschaft im Jahr 1861 aufgehoben, doch das brachte für die Bauern im Riesenreich keine spürbaren Verbesserungen - schließlich blieben sie weiter in der "Obschtschina", der Dorfgemeinschaft, und ihrer Rechtsform, dem "Mir", gebunden. Diese stammte aus altslawischer Zeit und überlebte alle Wandlungen im russischen Reich. Der "Mir" schränkte die Mobilität der Bauern ein und erlaubte keinen privaten Grundbesitz - jeder Haushalt konnte entsprechend der Anzahl seiner Mitglieder einen oder mehrere Landstreifen beanspruchen, wobei der Boden in regelmäßigen Abständen neu verteilt wurde. Ein System, das mit dem Eintritt Russlands in die Moderne früher oder später unhaltbar werden musste: Durch die immer wieder stattfindende Neuverteilung konnten die Bauern - beinahe wie später im Kommunismus - kein wirkliches Interesse daran haben, die Qualität einer Parzelle zu verbessern. Sie führte außerdem zu wenig effektiver Bodenzersplitterung. Dazu stieg die Bevölkerung auf dem Land rasch an - bei gleich bleibenden Anbauflächen. Die russische "Agrarkrise" wurde zur Überlebensfrage für das Zarenreich: Linke Sozialrevolutionäre gingen mit der Idee, den Grund und Boden von Gutsherrn und Klöstern zu enteignen, auf Bauernfang; vielfach mit Erfolg. Russland bewegte sich bereits am Rande der Revolution.
Sie zu verhindern, trat Stolypin im Juli 1906 als Ministerpräsident an. Bereits im August ließen Sozialrevolutionäre zwei Bomben in der Datscha des Premiers hochgehen. 27 Menschen kamen um, Stolypins dreijähriger Sohn und seine 14-jährige Tochter wurden schwer verletzt. Er selbst wurde zum "Eisernen Premierminister": 5500 Todesurteile unterfertigte er in seiner Amtszeit, die Duma ließ er immer wieder auseinanderjagen - "gelenkte Demokratie" würde man das heute nennen.
Doch Stolypin, der die russische Autokratie behutsam auf den Weg Richtung Rechtsstaat brachte, ging die Lebensfragen des Landes an: Schon 2006 setzte er per Ukas für die Bauern das Recht durch, die Obschtschina zu verlassen und selbst den eigenen Grund und Boden zu bewirtschaften. Was folgte, war eine tief greifende Agrarreform: Der Ministerpräsident schuf Agrarbanken, die den Bauern spezielle, gering verzinste Kredite gewährten, dazu Ausbildungsprogramme und ein System von Kooperativen für die Nutzung von Maschinen.
Sichtbare Erfolge
Obwohl manche der verbliebenen Obschtschina-Bauern gegen die Aussteiger kämpften - es kam zu Überfällen auf Einzelgehöfte und Brandstiftungen -, griffen die Reformen: Findige Bauern nutzten die billigen Kredite, kamen in diesen wenigen Jahren zu (bescheidenem) Wohlstand und Eigentum und beteiligten sich in den von Stolypin geschaffenen Selbstverwaltungsorganen der Landstände. Sie wurden selbständig. Der ländlichen Übervölkerung begegnete man mit einem Programm zur Neulandgewinnung. Es war wesentlich erfolgreicher als das später unter Nikita Chruschtschow durchgeführte Experiment, das zu ökonomischen und ökologischen Wüsten und zur Versteppung des Aralsees führte.
Zwischen 1908 und dem Beginn des Weltkrieges wanderten 2,8 Millionen Menschen nach Sibirien und Mittelasien aus. "Ich habe noch alte Leute gekannt, Stolypin-Auswanderer", sagt Dmitri Bikaschow. "Einer von ihnen, Anton Stepanowitsch, zog als Kind gemeinsam mit seinem Vater nach Kasachstan. Man hat ihnen ein riesiges Gebiet gegeben, mit guten Schwarzerde-Böden. Später, unter Stalin, wurden genau diese Bauern dann als Kulaken verfolgt." Sie galten nach der Oktoberrevolution als Gegner der Sowjetmacht, weil sie, dem Marxismus gemäß, die Welt des Kleinbürgertums ständig neu erschufen. Sie mussten weg.
"Der weißrussische Dichter Vasyl Bykow hat beschrieben, wie das vor sich ging", sagt Dmitri traurig. "In seinem Dorf waren alle gleich - fast: Der hatte eine Kuh, der auch, jener auch. Einer aber hatte eine Kuh und ein Kalb - nun, schicken wir halt ihn nach Sibirien, dann ist die Quote erfüllt", sagt er mit bitterem Unterton. Es war offenbar der Neid und die Rache der Habenichtse, der die Verbrechen befeuerte: "Die Bolschewiki haben sich der Räuber und Trinker bedient", meint Dmitri. Alexander Jakowlew berichtet über einen "Aktivisten" aus seinem Dorf: "Niemand sah Sudakow jemals arbeiten Zuerst schwadronierte er nur abstrakt über die Parteilinie’. Wir hielten ihn für einen Clown, über den man herzlich lachen konnte. Das Gelächter hörte jedoch auf, als Sudakow begann, Namen zu nennen." Mit dem Kriegskommunismus unter Lenin, mit der Kollektivierung unter Stalin brach das pure Grauen über das russische Dorf herein. Es kam zu bewusst herbeigeführten Hungersnöten, zu Fällen von Kannibalismus.
Und nach Stalins Schreckensherrschaft? "Erhielten die zu Sklaven herabgesunkenen Bauern immerhin ihre Pässe zurück. Aber Chruschtschow erließ eine idiotische Weisung: Als echter Kommunist verfügte er, dass es auch keine privaten Kleingärten mehr geben dürfte. Nun hatte man für ein Apfelbäumchen vorm Haustor hohe Steuern zu zahlen, für ein Birnenbäumchen wieder andere Steuern. Das war fatal, da sind die Passinhaber gleich abgehauen", so Bikaschow. "Das absurde System funktionierte mehr schlecht als recht bis zum Ende der Sowjetunion. Aber immerhin, es gab ein System. Mit der Perestroika ist alles auseinandergebrochen. Rundherum haben die Kolchosen zugesperrt, unsere wird auch nur mehr im Sommer notdürftig bewirtschaftet. Hier grasen Kühe. Warum? Weil es das Gras gratis gibt. Für Schweine bräuchte man ein spezielles Korn."
Späte Ehrung
Neuerdings besinnt man sich in Russland wieder auf Stolypin. Präsident Medwedew ordnete an, den 150. Geburtstag des Reformers im April kommenden Jahres gebührend zu feiern. Und Regierungschef Wladimir Putin forderte die Abgeordneten der Staatsduma auf, Geld für ein Denkmal zu spenden. Gibt es noch Hoffnung? "Nein", sagt Dmitri Bikaschow. "Du siehst es ja. Es gibt hier einfach keine Leute mehr."
Auch Stolypin hat am Ende resigniert. Als die Duma ein Gesetz über die Ausweitung der Rechte einer bäuerlichen Selbsthilfeorganisation ablehnte, reichte er seinen Rücktritt ein. Kurz darauf, am 14. September 1911, besuchte er in Anwesenheit von Zar Nikolaus II. in Kiew die Oper. Ein Sozialrevolutionär mit guten Kontakten zur Geheimpolizei Ochrana feuerte auf Stolypin. Eine Verschwörung linker Kreise? Oder hatten Stolypins reformresistente rechte Feinde ihre Finger im Spiel? Warum feuerte der Täter nicht auf den Zaren, sondern auf den bereits abgetretenen Premier? Man weiß es bis heute nicht. Pjotr Stolypin starb am 18. September 1911 an den Schussfolgen. Seine Reform wurde schon 1915, mitten im Krieg, gestoppt.
Gerhard Lechner, geboren 1976, ist Historiker, Politikwissenschafter und freier Mitarbeiter der "Wiener Zeitung".