Neue These über das Ausfallen des Golfstroms, Europas Warmwasserheizung.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Berlin. Nur im hohen Norden Europas, Sibiriens und Nordamerikas sowie in den Hochgebirgen der Nordhalbkugel blüht in unserer Zeit das Rosengewächs, das Botaniker Dryas octopedala oder Weißer Silberwurz nennen. Dieses 15 Zentimeter hohe arktische Gehölz, heute Symbolpflanze von Lappland und Nationalblume Islands, wuchs vor fast 13.000 Jahren fast überall in Mitteleuropa. Offenbar hatte es damals einen Kälterückfall gegeben, obwohl bereits viele Jahrhunderte davor die Weichen in Europa von der Eiszeit in Richtung Erwärmung gestellt waren. Bereits 1989 hatte Wallace Broecker vom New Yorker Lamont-Doherty Geological Observatory vermutet, dass diese "Jüngere Dryaszeit" genannte Periode begann, als Schmelzwasser von Nordamerikas Gletschern durch den St.-Lorenz-Strom zum Nordatlantik schossen und dort die Warmwasserheizung Europas abstellten.
Gigantischer Gletschersee
In der Early Edition der Fachzeitschrift "Pnas" vermuten jedoch jetzt Alan Condron von der University of Massachusetts und Peter Winsor von der University of Alaska, dass die Eiszeit über einen weiten Umweg nach Europa zurückkam. Damit weisen die Forscher auf das Nordpolarmeer als wichtiges Schlüsselelement für die komplizierten Zusammenhänge rund um das Klima hin. Bei Broecker spielte die Arktis bei der Rückkehr der Eiszeit nach Europa kaum eine Rolle. Aber schon er hatte jenen riesigen See in Verdacht, der sich bildete, als am Ende der letzten Eiszeit die Gletscher Nordamerikas schmolzen: den Agassiz-See, der vor rund 13.000 Jahren 440.000 Quadratkilometer Fläche bedeckte und sich vom Herzen Kanadas bis in den heutigen US-Bundesstaat North Dakota erstreckte.
Im Laufe der Zeit hatte dieser gigantische See drei völlig unterschiedliche Ausflüsse. Eine Zeit lang floss das Wasser nach Süden und erreichte den Golf von Mexiko. Zu anderen Zeiten strömten die Fluten nach Osten über den Sankt-Lorenz-Strom zum Nord-Atlantik. Broecker hatte bereits 1989 vermutet, dass der Abfluss des Agassiz-Sees vor knapp 13.000 Jahren relativ rasch von Süd auf Ost wechselte. Dort aber könnten die Schmelzwasser-Ströme eine Region im Nordatlantik erreicht haben, die für das Klima auf der Nordhalbkugel und vor allem für den Nordwesten Europas große Bedeutung hat. Dort wehen eisige Winde von den Gletschern Grönlands über die kalte Labradorsee sowie über riesige Meeresflächen zwischen Grönland, Island und Norwegen. Dadurch kühlt das salzhaltige Wasser weiter ab, wird so schwerer und sinkt nach unten. In einer Tiefe von wenigen Kilometern fließen diese Wassermassen dann nach Süden. Im Gegenzug fließt warmes Wasser aus dem tropischen Golf von Mexiko nach Norden und wärmt dabei den Westen Europas um rund fünf Grad Celsius auf.
Das kalte Schmelzwasser aus dem Agassiz-See enthielt fast kein Salz. Als es über den Sankt-Lorenz-Strom die für Europas Klima so wichtige Region im Nordatlantik erreichte, verdünnte es dort daher das Salzwasser. Dadurch wurde es leichter und sank auch bei kräftiger Abkühlung nicht mehr nach unten. Bald stockten die dort entstehenden Tiefenwasserströme, die Warmwasserheizung Europas fiel aus, und die jüngere Dryaszeit brachte vor rund 12.900 Jahren für nahezu 1200 Jahre ein wenig Eiszeit mit deutlich niedrigeren Temperaturen nach Europa zurück.
Zumindest lautete so die ursprüngliche Vermutung, an der aber bald Zweifel aufkamen. So liegt die Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms viel weiter im Süden als die Region, in der die Tiefenwasserströme entstehen. Auch fanden Geoforscher in dieser Region keine Hinweise auf starke Schmelzwasserströme zu Beginn der jüngeren Dryaszeit. Genau die gesuchten Indizien aber schilderten Julian Murton von der University of Sussex in England und seine Kollegen im April 2010 im Fachblatt "Nature": Weit im Nordwesten Kanadas, an der Mündung des Mackenzie-Stroms in das Nordpolarmeer, fanden sie deutliche Hinweise auf riesige Schmelzwasserfluten aus dem Agassizsee, die sich dort vor knapp 13.000 Jahren in den Ozean ergossen.
Alan Condron und Peter Winson ließen jetzt ein Computermodell laufen, das die Ozeanströme viel genauer als bisherige Modelle simuliert. Demnach biegen diese kalten Wasserströme bereits an der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms scharf nach Süden ab. Als 120 Kilometer breiter Strom sollte das Schmelzwasser dann entlang der amerikanischen Küste geflossen sein, bis es beim Kap Hatteras auf den warmen Golfstrom traf. "Dieser Golfstrom schiebt jede Sekunde rund 30 Millionen Kubikmeter Wasser nach Nordosten", erklärt Jochem Marotzke vom Hamburger Max-Planck-Institut für Meteorologie. Die fünf Millionen Kubikmeter Schmelzwasser, die laut Annahmen der US-Forscher damals aus der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms kamen, dürften die Warmwasserheizung Europas also kaum dramatisch gekühlt haben.
Brisant für heutiges Klima
Ganz anders sieht die Situation für den Mackenzie-Strom aus. In der Computersimulation fließt das Schmelzwasser des Agassiz-Sees entlang der kanadischen Küste nach Osten, umrundet den Norden Grönlands, biegt dann nach Süden in Richtung Nordatlantik ein und erreicht genau das Gebiet, in dem diese wenig salzhaltige Strömung die Tiefenwasserströme abwürgen und so den Golfstrom abstellen kann. "Das ist eine sehr interessante Arbeit", meint auch Martin Visbeck vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Geomar in Kiel.
Aber es gibt nach wie vor Unsicherheitsfaktoren. Visbeck gibt zum Beispiel zu bedenken, dass damals der Meeresspiegel niedriger als heute lag und auch die Winde anders geweht haben könnten. Im Großen und Ganzen aber liefern die neuen Computersimulationen einen wichtigen Hinweis, auf welchem Weg die Eiszeit vor knapp 13.000 Jahren nach Europa zurück kam: über den Norden Kanadas und das Nordpolarmeer. Diese Information aber lenkt auch die Aufmerksamkeit für die derzeitige Entwicklung des Klimas verstärkt auf das Meer rund um den Nordpol.