Das politische Schicksal von Angela Merkel hängt daran, ob in der Flüchtlingskrise eine europäische Lösung gelingt.
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Berlin. Vorsichtig, abwägend, pragmatisch, ideologisch flexibel, und vor allem eines - machtorientiert: Angela Merkel. Trotz innerparteilicher Gegner, außenpolitischer Stürme und einer bis heute nicht gelösten Weltwirtschaftskrise konnte die lange unterschätzte Uckermärkerin vergangenen Dezember ihr zehnjähriges Amtsjubiläum feiern. Über ihr Erfolgsrezept rätselten in Deutschland viele, wie etwa der linke Kabarettist Volker Pispers. "Wenn die Kritiker vor der Merkel stehen und alle schimpfen und toben, dann dreht die sich um und sagt: Die stehen hinter mir." Merkel spiele Politik nicht so offensiv wie die deutsche Tennis-Ikone "Bum-Bum-Boris" Becker, sondern wie Björn Borg: Souverän von der Grundlinie her, den Gegner im Blick - bis dieser einen Fehler mache.
Keine schnellen Entschlüsse
So war es zumindest lange Zeit. Bis vergangenen Sommer. Bis zur Flüchtlingskrise. Diese scheint Merkel komplett verändert zu haben. Das war auch am jüngsten Sonntagabend bei der TV-Talkshow "Anne Will" zu sehen. Selten hat die als uncharismatisch und technokratisch beschriebene deutsche Kanzlerin so entschlossen gewirkt. Betont eindringlich warb Merkel um Verständnis für ihre Politik, für eine gesamteuropäische Lösung - auch mit Worten, die man eher ihrem Amtsvorgänger Gerhard Schröder zugetraut hätte: Ihre "verdammte Pflicht und Schuldigkeit" sei es, dafür zu sorgen, "dass dieses Europa einen gemeinsamen Weg findet". Sie sei "sehr optimistisch", dass der europäische Weg zur Lösung der Flüchtlingskrise gelingt.
Und was, wenn er nicht gelingt? Soll Deutschland dann nicht auch die Grenzen schließen? Merkel verneinte, setzte alles auf eine Karte. "Ich habe keinen Plan B", betonte sie. Alles oder nichts.
Es ist ein erstaunlicher Richtungs- oder wenigstens Stilwechsel, der sich bei Merkel in der Flüchtlingskrise vollzogen hat. Es ist nicht ihr erster: 2005 hatte Merkel den Wahlkampf noch als marktradikale Reformerin bestritten. Es ist ihr nicht gut bekommen: Nur hauchdünn war am Ende der Vorsprung der CDU-Chefin vor ihrem Rivalen Gerhard Schröder. Es war wohl auch das eigenwillige Benehmen des emotionalen "Basta!"-Kanzlers nach der Wahl, das Merkel den Weg ins Berliner Kanzleramt ebnete: Während Schröder vor laufenden Kameras den Kanzlerposten lautstark für sich reklamierte, schwieg Merkel - und gewann.
Ähnlich gestaltete sie ihre Politik in den kommenden Jahren: Schweigen, abwarten, moderieren - und am Ende der Mehrheit folgen. "Auf keinen Fall will Merkel überstürzte Entscheidungen treffen", meint Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. "Sie will damit der Gefahr, sich später korrigieren zu müssen, begegnen." Von der marktradikalen Reformerin des Jahres 2005, von der "deutschen Maggie Thatcher", wie gemutmaßt wurde, war jedenfalls bald nichts mehr übrig. Die Pragmatikerin Merkel führte die CDU in die politische Mitte und entsorgte ehemalige ideologische Kernpositionen der Christdemokraten: Kinderkrippen wurden ausgebaut, die Wehrpflicht wurde abgeschafft, die CDU für Schwule und Lesben geöffnet. Nach der AKW-Katastrophe von Fukushima reaktivierte Merkel den deutschen Atom-Ausstieg. In ihrer Klimaschutz- und Menschenrechts-Rhetorik erinnert sie heute eher an die Grünen. Und während Merkel im Jahr 2000 "die multikulturelle Gesellschaft" noch für "keine lebensfähige Form des Zusammenlebens" hielt, singt sie heute das Hohelied auf die "bunte" Gesellschaft im Zeichen der Globalisierung.
Dass Merkel einen abermaligen Politikwechsel um 180 Grad - diesmal nach rechts - politisch überleben würde, glaubt aber kaum noch jemand - zu sehr hat sich die Kanzlerin in der Migrationskrise exponiert. Merkel, die mit ihrem "Wir schaffen das" geradezu zum Symbol einer offenen Flüchtlingspolitik wurde, kann sich nicht mehr umdrehen und sagen: "Die stehen hinter mir". Zumal tatsächlich immer weniger Bürger und Politiker hinter Merkel stehen. In den eigenen Reihen rumort es. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer, der Chef der Schwesternpartei CSU, traf sich am Freitag zum wiederholten Mal mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, einem schroffen Merkel-Kritiker. Der Unmut in den Unionsparteien steigt. Der lange so erfolgreiche Merkel-Kurs Richtung Mitte stellt sich für viele Unions-Wähler heute als Weg nach links dar. Für sie ist Merkel zu weit gegangen - und nun tut sich rechts von der CDU mit der "Alternative für Deutschland" (AfD) eine rechtspopulistische Alternative zur nach links gewanderten Union auf. Parallel dazu gerät Merkel in neuen, expandierenden rechten Medien als "Mutti Multikulti" oder "Königin der Schlepper" unter Beschuss.
Kanzlerin auf Abruf?
Merkels Gegenrezept lautet: Europa. Merkel, die 2009 davon sprach, die Nationalstaaten müssten in globalem Rahmen Kompetenzen abgeben, "koste es, was es wolle", hat ihr politisches Schicksal an die EU geknüpft. Sie erscheint heute vielen als letzte konsequente Verteidigerin der Idee des vereinten Europas. Wenn dieses Europa für die Flüchtlingskrise keine Lösung findet, wenn es erneut nationale Grenzen hochzieht, dann ist Angela Merkel nur noch eine Kanzlerin auf Abruf. Wenn sie aber eine tragfähige Lösung durchsetzt, hat sie gegen alle Kritiker recht behalten. Dann ist ihr wohl Nachruhm gewiss.