Für die ÖVP ist Niederösterreich Kraftfeld, Personalpool und Symbol früherer Stärke. Wie Wien für die SPÖ. Eine Analyse.
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Das VAZ St. Pölten, wo am Samstag der "Ball der Technik" inklusive Ö3-Disco steigt, ist nicht gerade ein prunkvolles Ambiente. Doch Anfang Jänner, beim Wahlkampfauftakt der ÖVP in Niederösterreich, schraubte Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner das Pathos auf ein Niveau, wie man es sonst nur am Capitol Hill in Washington erlebt: "Es steht viel auf dem Spiel." Und dann noch einmal, sehr langsam, mit bebender Stimme: "Es. Steht. Viel. Auf. Dem. Spiel."
Aber stimmt das? Zunächst, die Kompetenzen des Landtags, der am Sonntag in Niederösterreich gewählt wird, sind "sehr gering ausgeprägt", wie der Staatswissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik von der Uni Wien sagt.
Nur in wenigen Bereichen fällt den Landesparlamenten die alleinige gesetzgeberische Kompetenz zu, darunter bei der Wohnbauförderung, im Baurecht, der Raumordnung sowie im Jugend- und Naturschutz. Mit dem Bund teilt man sich die Kompetenz im Armenwesen (Sozialhilfe) und bei der Pflege, die großen Stellschrauben sind aber Angelegenheiten des Bundes.
Dort dürfen die Länder laut Verfassung mitreden, denn jedes Bundesgesetz muss auch im Bundesrat beschlossen werden. "Die Länderkammer ist bei uns aber schwach", sagt Katrin Praprotnik, Politikwissenschafterin an der Uni Graz. Über das Veto des Bundesrats kann sich der Nationalrat durch einen Beharrungsbeschluss hinwegsetzen - nur bei Verfassungsänderungen, die die Länder betreffen, kommt dieser Kammer ein absolutes Vetorecht zu.
Vollziehung ist wichtiger als Gesetzgebung
Kurzes Zwischenergebnis: Formal steht bei einer Landtagswahl nicht sehr viel auf dem Spiel, diesmal könnte aber durch ein schwaches Abschneiden der ÖVP die knappe türkis-grüne Mehrheit im Bundesrat verloren gehen. Gegen eine derzeit wild entschlossene Opposition jedes Vorhaben per Beharrung durchdrücken und bei Länderkompetenzen größere Zugeständnisse an SPÖ oder FPÖ machen zu müssen, wäre wohl eine gewisse Belastung.
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Wie sieht es bei der Landeshauptfrau aus, denn diese wird vom Landtag gewählt? In der Vollziehung seien die Länder wichtiger als in der Gesetzgebung, sagt Ennser-Jedenastik. Es gibt großen Spielraum, wie auch die Corona-Krise bewiesen hat, in der die bisher wenig beachtete mittelbare Bundesverwaltung zu Prominenz gelangte. Theoretisch könnte ein Minister einem Landeshauptmann eine Weisung erteilen, doch selbst in der Pandemie schreckten die Gesundheitsminister vor dieser heiklen Option zurück.
Dieser Umstand verweist auf eine zweite Ebene, die für die Frage der Relevanz der Länder eine Rolle spielt. Nicht zuletzt aufgrund der größeren Bedeutung der Vollziehung, die die Landesregierung im Staatsgefüge gegenüber den Landtagen privilegiert, kommt den Landeshauptleuten auch abseits ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen eine zentrale Stellung zu.
Die Grenzen des Einflusses
Die Landeshauptleute-Konferenz, die nur in der Realverfassung existiert, ist geradezu sagenumwoben. Ihr Einfluss auf die Geschehnisse im Bund ist unstrittig, wie etwa der nächtliche Beschluss zur Impfpflicht bei einem Treffen der Landesoberen im Herbst 2021 bewies. Sie ist trotzdem nicht als Schattenregierung zu bezeichnen. Zum einen erschwert die politisch bunte Zusammensetzung häufig ein konstruktiv-initiatives Vorgehen - auf ein kollektives Nein einigt sich dieses Gremium leichter. Doch auch das wird im Bund nicht immer gewürdigt.
Bei der geplanten Novelle der Umweltverträglichkeitsprüfungen schrien die Länder in der Begutachtung Zeter und Mordio, dennoch blieb die Regierungsvorlage in den zentralen Passagen unverändert. In Oberösterreich wird nun ein "Anschein der Beratungsresistenz" geortet, in Vorarlberg lehnt man das Vorhaben weiter entschieden ab, doch beschlossen wird das Gesetz dennoch.
Herausragende Stellung innerhalb der Partei
Zu den formalen und realen Ebenen in der Legislative und der Exekutive muss eine weitere Ebene ergänzt werden - eine besonders wichtige: Mikl-Leitners Aussage ist auch mit türkiser Brille zu lesen. "Die Landeshauptleute haben bedeutenden Einfluss in den Parteien, die die föderalen Strukturen widerspiegeln", sagt Ennser-Jedenastik. Politologin Prapotnik ergänzt: "Sie sind ein Machtzentrum, die durch informelle Kanäle aufgrund ihrer Stellung in den jeweiligen Parteien Einfluss nehmen." Das gilt im besonderen Ausmaß für Niederösterreich und die ÖVP sowie auch für Wien und die SPÖ. "Diese zwei Länder haben für die beiden Parteien überdurchschnittliche Bedeutung gehabt", so Ennser-Jedenastik. Das heißt, auch Wien war und ist für die ÖVP wichtig sowie vice versa Niederösterreich für die SPÖ, das ein Viertel aller roten Ministerinnen und Minister stellte.
Die Landeshauptleute sind stets auch Obleute der Landesparteien. Unzweifelhaft hat die niederösterreichische Volkspartei sowie auch die Wiener SPÖ eine herausragende Stellung. Wiens damaliger Bürgermeister Michael Häupl machte Werner Faymann zum Kanzler, Niederösterreichs Erwin Pröll beorderte 2016 Mikl-Leitner nach St. Pölten und schickte dafür Wolfgang Sobotka als Innenminister nach Wien. Doch allmächtig, wie es bisweilen dargestellt wurde, waren auch Pröll und Häupl nicht, auch deren Einfluss hatte Grenzen.
Beide Bundesländer sind aber bis heute ein bedeutender Personalpool für SPÖ und ÖVP, wobei Niederösterreich aktuell im besonderen Maß als Drehscheibe fungiert - auch bei politisch zu besetzenden Posten in der Verwaltung. "Das sind keine Zufälle", sagt Prapotnik. Dass es den Wiener Nehammer, auch Sebastian Kurz, immer wieder nach St. Pölten zog, kommentiert Ennser-Jedenastik so: "Machtzentren ziehen einfach Leute an." Wien ist als Regierungssitz per Definition ein Machtzentrum. Gleich sechs aktuelle ÖVP-Regierungsmitglieder haben einige Jahre in Ministerkabinetten gearbeitet.
Konservierung der Hegemonie
Niederösterreich und Wien sind zwar nicht die letzten, aber die wichtigsten Bastionen der beiden Großparteien. Während die temporären Farbwechsel in Salzburg und der Steiermark, die beide für rund zehn Jahre rote Landeshauptleute stellten, relativ wenig Aufregung verursachten, wäre ein Verlust des Kernlandes Niederösterreich für die ÖVP ein Beben. Genauso Wien für die SPÖ. Es ist eine Undenkbarkeit und für beide Parteien eine Urangst. "Eigentlich sollte das normal sein", sagt Ennser-Jedenastik ganz nüchtern. Für Prapotnik wäre es sogar ein "Zeichen einer funktionierenden Demokratie", käme es gelegentlich zu Machtwechseln.
So sieht es aber nicht aus. Die Zeiten der Absoluten sind zwar vorbei, vermutlich ab Montag auch in Niederösterreich. Abgelöst wurde und wird sie aber durch eine Ära "der relativen Dominanz", wie Ennser-Jedenastik sagt. Interessant ist, dass die Verluste für die historisch Zweiten in Wien und Niederösterreich stärker ausfallen als für den Landes-Krösus. Langfristig und realpolitisch könnte dies die Hegemonie, unter wechselnden Juniorpartnern, sogar eher konservieren.
Das ändert aber nichts an der für die Parteien längst auch symbolisch aufgeladenen Bedeutung dieser beiden Kernländer. Die relative Schwäche der einstigen Großparteien im Bund, verglichen mit früheren Jahrzehnten, wertet die Landesparteien sogar tendenziell weiter auf. So gesehen steht am Sonntag für Mikl-Leitner tatsächlich viel auf dem Spiel. Und der Verteidigung der Bastionen wird auch alles untergeordnet. Vor fünf Jahren hat die ÖVP in Niederösterreich die Wahlkampfkostengrenze von sechs Millionen Euro knapp überschritten, in Wien gab die SPÖ laut eigenen Angaben zuletzt 5,46 Millionen Euro aus. Bei Nationalratswahlen liegt die Grenze für ganz Österreich übrigens bei sieben Millionen Euro.