Bagdad - Wer in Bagdad als AusländerIn abends durch die Straßen geht, braucht sich nicht zu fürchten. Wenn er/sie Glück hat, bleibt sogar ein Auto stehen und lädt die Gäste zum Essen ein. Da wird nicht unterschieden, ob es sich um einen Araber, eine Deutsche oder sogar um einen Engländer oder eine US-Amerikanerin handelt. Denn jeder Iraker weiß, dass bei den bestehenden Kontrollsystemen der Regierung Saddam Husseins nur sogenannte "Freunde des Irak" das Land betreten dürfen. "Saddam ist ein harter Herrscher, aber bei ihm wissen wir wenigstens, woran wir sind. Wenn ein anderer kommt, werden die alten Stammesfehden wieder aufbrechen", sagt eine 40-jährige Hausfrau, die ihre Kinder in die 100 km entfernte Schiitenstadt Samara bringt.
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Sie ist nicht die einzige Bewohnerin Bagdads, die - von bösen Erinnerungen und schlimmen Vorahnungen getrieben - in der Ferne Unterschlupf sucht. Bereits seit einer Woche ist die Hauptstadt halbleer. Sogar viele der Soldaten und Offiziere haben sich in Privathäuser zurückgezogen und warten dort auf ihren Einsatzbefehl. "Territoriale Kontrolle" ist angesagt - vielleicht nicht für morgen, sicher aber für übermorgen.
Trotzdem geht aber das geschäftige Leben weiter. Diejenigen, die sich entschlossen haben, daheim zu bleiben, suchen nach Proviant für die nächsten Wochen, nach Wasserkanistern und Taschenlampen. Geradezu lächerlich nehmen sich da die breiten Klebebänder aus, mit denen die Hotels in der Hauptstadt die Fenster zugepflastert haben, lächerlich im Vergleich zu den Strahlenanzügen und Gasmasken, mit denen die Auslandsjournalisten hier angekommen sind. "Weil Saddam Hussein in seiner Verzweiflung die eigenen Leute vergiften wird", sagen die einen; "weil die US-Bomber wie im Golfkrieg und wie in Serbien cäsiumhaltige Splitter ablassen werden", meinen die anderen.
Unter den AusländerInnen zirkulieren die wildesten Albträume. Im Augenblick des grossen Exodus, der gerade jetzt stattfindet, würden alle, die keine Diplomatenpässe besitzen, von den Schergen des Diktators eingefangen und dazu gezwungen werden, als menschliche Schutzschilder ("Human Shields") herzuhalten, wie das 1991 geschehen ist. Doch da gibt es einen gewichtigen Unterschied zu damals. "Wir wissen, dass mindestens die halbe Welt auf unserer Seite steht", sagt Al-Hushimi, der Leiter der "Organisation für Freundschaft, Frieden und Solidarität".
In Wirklichkeit gibt es diese menschlichen Schutzschilder zwar; sie sind aber Freiwillige, die ihr Leben riskieren, weil sie - oft wider besseres Wissen - hoffen, die Kriegsbetreiber in Washington und London davon abhalten zu können, den tödlichen Einsatzbefehl zu geben. Wer von ihnen und den Auslandsjournalisten zur Stunde Null des ersten Bombenangriffs aber tatsächlich bleiben wird, weiss nur Allah. Allzu widersprüchlich laufen derzeit noch die Diskussionen um Leben und Tod.
Viel ruhiger wirken da die die Iraker selbst. "Wenn wir uns jetzt gegenseitig nervös machen, nützt das nur unseren Angreifern", sagt Gesundheitsminister Mahat Mubarak, der sich vor allem um die Wasserversorgung der Bevölkerung und die Energieversorgung in den Spitälern Sorgen macht.
Keiner kennt das strategische Konzept bei der Verteidigung Bagdads. Wird wie 1991 zunächst die Luftabwehr zum Einsatz kommen? Werden Zigtausende bewaffnete AktivistInnen der Baath-Partei zum Gegenschlag ausholen, wenn einmal die US-Bodentruppen und/oder Fallschirmjäger unterwegs sind? Oder wird Bagdad im Augenblick des Angriffs am Ende doch zur Geisterstadt werden, womit die ganze Sinnlosigkeit dieses Krieges vor den Augen der Weltöffentlichkeit blossgestellt würde?
Die Entscheidung darüber, die letztlich auch eine Entscheidung über Leben und Tod unzähliger Menschen ist, liegt jetzt einzig und allein bei jenem Mann , dessen für westliche Beobachter kaum erträgliche, standbildhafte Präsenz angesichts des Herannahens der Stunde Null nur noch allgegenwärtiger wird. Stürzt man so etwa einen Diktator?