Das digitale Zeitalter an Wiens Schulen wird an zwei Brennpunktschulen eingeläutet. Heute noch Versuchskaninchen, könnten die Schüler aber bald die großen Gewinner sein.
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Der Gedanke daran erfüllt viele Eltern mit Schrecken. Was würde wohl die Familie sagen, was würden wohl Freunde von einem denken? Als Vater und Mutter hätte man jedenfalls versagt, wenn der Sprössling nicht den Sprung schaffen würde, das Volksschulzeugnis zu schlecht ausfällt, um in einem Gymnasium aufgenommen zu werden. Was dem Kind bleibt, wäre die Neue Mittelschule (NMS), jene Bildungseinrichtung, die zum Großteil von bildungsfernen Kindern aus ökonomisch schwachen Familien, zumeist mit Migrationshintergrund, besucht wird. Jene Bildungseinrichtung, die mehr als andere Schulformen Unterschicht produziert.
Die NMS Feuerbachstraße im 2. Bezirk ist so eine Schule. Ihre Schüler haben Wurzeln in der Türkei, in Serbien, in Afghanistan, in Syrien, sie gehören Wiens Unterschicht an. Laut Statistik Austria werden die wenigsten NMS-Schüler auf eine weiterführende Schule wechseln, wo sie mit Matura abschließen (15 Prozent). Nur ein Bruchteil wird eine Universität besuchen. Kaum jemand wird ein Master- oder gar ein PhD-Studium abschließen. Die Zahlen zeigen auch: Sie werden am Arbeitsmarkt im Mittel um ein Drittel weniger verdienen. In prekäreren Jobs arbeiten, Jobs an die Gymnasiasten nicht einmal denken.
Der Weg der Schüler aus der Feuerbachstraße scheint also vorgezeichnet. Oder doch nicht? Ein Lehrer leistet nun erfolgreich Widerstand gegen die erdrückenden Zahlen. Auch seine Kollegen haben sich ihm angeschlossen. Seither ist es schwer geworden, einen Platz in der Schule zu bekommen.
Klaus-Jürgen Spätauf, Sportschuhe, graues T-Shirt, blaue Jeans mit einem Loch über dem linken Knie, unterrichtet an diesem Vormittag in der 3A. Es ist Mathematikstunde. Es geht um die Zinsrechnung. Mit dem Rücken steht er zu den Schülern, kritzelt ein paar Fachwörter auf die Tafel. Eine Unterrichtsstunde wie in jeder anderen Wiener Schule auch. Doch dann erteilt der Mathematiklehrer seinen Schülern den Auftrag, ein Rechenbeispiel in Zweiergruppen selbst zu lösen. Die Fragestellung erklärt er nicht. Nur so viel: "Den Arbeitsauftrag findet ihr auf der Lernplattform." Wie auf Knopfdruck wenden sich die 25 Schüler von ihrem Lehrer ab. Sie senken die Blicke auf ihren Schreibtisch, auf dem die Lichter ihrer iPads aufleuchten.
Nachrichten des Lehrers werden übersetzt
"Wir sind am Zug der Zeit dabei", sagt die stellvertretende Direktorin Maria Liebhart und grinst. In ihrer Schule gibt es kein Wörterbuch, keinen Taschenrechner, sondern iPads, Tablets von Apple. Jeder Lehrer, jeder Schüler hat eines dauerhaft zur Verfügung. Auch das Mitteilungsheft ist digital. Damit löste die Schule eines ihrer größten Probleme. Denn ob die Eltern Deutsch können oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Die Nachrichten des Lehrers können sie auf den Tablets in jede gewünschte Sprache übersetzen. Damit ist eine Kommunikation mit allen Eltern möglich. Wie oft das Tablet im Unterricht eingesetzt wird, liegt beim Lehrer, erklärt Liebhart. "Wir haben auch analoge Bücher", sagt sie.
Zurück in der Klasse. "Ich zeige die Aufgabe auf dem Beamer her, damit alle wissen, wo wir sind", erklärt Spätauf seinen Schülern. Auf dem iPad mussten sie vier ausgesuchte Internetseiten von österreichischen Banken besuchen, die verschiedenen Kreditangebote berechnen. Langsam bewegt sich Spätauf durch die Sitzreihen der 3A. "Zinsen ausrechnen sollte jeder handschriftlich können", erläutert der Lehrer. "Aber wenn man fünf, sechs Zinsmodelle vergleichen will, dann wird man das nicht mit dem Kopf machen." Er zeigt auf eines der Tablets und sagt: "Man wird sich eine Numbers-Datei - oder wenn man mit Microsoft arbeitet, eine Excel-Datei - zulegen und das Programm rechnen lassen."
Mathematik ist nicht das einzige Fach, in dem mit iPad unterrichtet wird. In Geografie zeichnen die Schüler mit der Kamerafunktion Wetterberichte auf, die sie vor einer grünen Wand präsentieren. "Die Schüler lernen so, den Kreislauf des Wassers zu verstehen, setzen sich mit Recherche auseinander, erstellen Animationen", sagt der Lehrer. Im Musikunterricht mussten die Schüler ein digitales Orchester aufnehmen. Die Sounds der Instrumente liefert die App Garage Band. "Diese Möglichkeit hätte ich ihnen ohne Tablet nicht bieten können", bemerkt Spätauf. "Schüler haben etwa eine Melodie der Klarinette eingespielt. Viele kannten dieses Instrument vorher nicht, wussten nicht, wie es klingt."
110 Milliarden Euro Umsatz
Wie ein U-Boot funktioniert, sollten die Schüler in Physik herausfinden. Sie erstellten daraufhin eine Animation, in der das Boot ab- und wieder auftaucht. Die Tauchzelle, Entlüftungs- und Flutventil wurden eingezeichnet, mit Wasser gefüllt, das durch Luft wieder verdrängt wurde, damit das U-Boot an die Oberfläche zurückkehrt.
Jüngsten Studien zufolge könnten europäische Unternehmen durch die Digitalisierung Umsatzsteigerungen von mehr als 110 Milliarden Euro pro Jahr erzielen. Ein Gelingen hängt von zwei Faktoren ab. Zum einen von den Unternehmen selbst. Der EU-Kommissar für digitale Wirtschaft, Günther Oettinger, betont: "Europa kann seine führende Rolle nur behaupten, wenn sich die Unternehmen erfolgreich und rasch der Digitalisierung öffnen."
Zum anderen sind die Bildungseinrichtungen gefordert. Laut EU-Kommission haben 40 Prozent der Europäer unzureichende Kenntnisse im Umgang mit gewöhnlicher digitaler Infrastruktur. Immer mehr Arbeitskräfte können am Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelt werden. Die Kommission geht davon aus, dass den Unternehmen bis 2020 rund 800.000 ausgebildete Mitarbeiter fehlen.
Europaweit zählen die skandinavischen Länder und die Niederlande zu den Vorreitern, wenn es um die Vermittlung von digitalen Fähigkeiten im Unterricht geht. Was in Stockholm, Oslo, Amsterdam bereits Normalität ist, soll nun auch in Wien Realität werden: die digitale Schule. Doch es sind nicht Klara, Juliane und Elias aus den bessergestellten Familien, sondern Cvetana, Shabnam und Mehmet, an denen die digitale Welt von morgen getestet wird. Neben der NMS Feuerbachstraße wird in Wien nur in der NMS Koppstraße in Ottakring flächendeckend mithilfe von Tablets unterrichtet.
Der soziale Mix in der Koppstraße ist derselbe wie in der Feuerbachstraße, niedriger Bildungsstand der Eltern, fast jedes Kind mit Migrationshintergrund. Die Niveaus der Schüler klaffen jedoch auseinander. Vom Analphabeten bis zu jenen, die es auf eine weiterführende HTL oder in das Oberstufen-Gymnasium schaffen werden.
"Frontalunterricht ist hier nicht möglich"
Ingo Stein, Vollbart, Glatze, schlabbriges T-Shirt, Apple-Watch auf dem Handgelenk, ist Lehrer für Mathematik, Physik und Chemie in der Koppstraße: "Frontalunterricht ist hier nicht möglich, weil die Leistungen zu unterschiedlich sind", gesteht er. "Es wäre der schwache Schüler hoffnungslos überfordert, der starke Schüler unterfordert. Der wird dann wahrscheinlich lästig, weil ihm fad ist."
Mit den Tablets ist es jedoch kein Problem, den starken Schüler zu fordern. "Wenn ich ihm eine neue Aufgabe geben möchte, dann ist das nur ein Knopfdruck", erklärt Stein. Früher brauchte der Schüler ein neues Arbeitsblatt. Der Aufwand war groß. Der Lehrer musste die Klasse verlassen, hinauf ins Lehrerzimmer, wo der Schulkopierer steht, hoffen, dass Papier im Drucker und der Toner nicht gerade wieder leer ist, das Arbeitsblatt kopieren, zurück hinunter in die Klasse. "Am iPad gibt es hingegen ausreichend Aufgaben in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen."
Jedes Klassenzimmer in der Koppstraße hat einen Beamer und Apple TV. Darauf können die Schüler den Bildschirm ihres iPads groß für alle projizieren. "Wenn sie etwas Tolles produziert haben, das sie ihren Mitschülern präsentieren wollen", schildert Stein. "Wenn sie mit der Aufgabe nicht weiterkommen, die Situation mit der gesamten Klasse lösen wollen."
Für viele Jugendliche ist das Tablet vor allem ein Spielgerät, ein Gerät auf dem sie in die soziale Welt von Instagram, Snapchat eintauchen. Doch Stein hat alles unter Kontrolle. Mithilfe einer Software kann er auf die Geräte der Schüler zugreifen. "Auf kleinen Vorschaubildern sehe ich, was auf den Tablets gerade passiert", sagt er. Sollen sich die Schüler wieder auf den Lehrer konzentrieren, sperrt er ihre iPads. Genauso gut kann er steuern, dass nur eine App funktioniert. Etwa bei einer Mathematik-Schularbeit, wenn die Schüler nur den Taschenrechner zu Hilfe nehmen dürfen.
Bei den Lernübungen zeigen die Programme auf den Tablets sofort, ob das Ergebnis richtig oder falsch ist. "Das beschleunigt den Lerneffekt", versichert Stein. "Die Zeiten sind vorbei, als der Schüler 30 Übungen gerechnet hat, sie dem Lehrer abgibt, der sie frühestens am nächstens Tag wieder zurückbringt und ihm erklärt, dass die Übungen falsch sind." Mit dem iPad bekommt er das Feedback sofort, kann gleich versuchen, die Übung besser zu machen. "Und das Gerät ist 100 Prozent objektiv und geduldig", sagt Stein mit einem Lächeln.
Präsentationen vorbereiten, verlinken, Formeln benutzen. Ein Schüler, der die vier Jahre in den NMS Feuerbachstraße und Koppstraße unterrichtet wurde, ist bereit für den digitalen Arbeitsmarkt der Zukunft. Auch, weil die Schüler auf den Tablets programmieren lernen. Sie wissen also nicht nur, wie sie die Apps einsetzen können, sondern auch, wie sie funktionieren.
Technische Voraussetzungen
"Dadurch verstehen sie die Abläufe", sagt Klaus-Jürgen Spätauf. Ob jeder Mensch in Zukunft programmieren können muss, glaube er nicht. "Gewisse technische Kenntnisse werden aber vorausgesetzt sein." Der Lehrer erzählt von seiner Großmutter, die sich keinen Fahrschein beim Automaten kaufen kann. "Diese Probleme werden meine Schüler nie kennenlernen."
Als er vor mehr als vier Jahren die erste iPad-Klasse in der NMS Feuerbachstraße initiierte, gab es Kollegen, die überfordert waren, erinnert sich Spätauf. Einige hatten zum ersten Mal ein Tablet in der Hand, hatten Angst, die Kontrolle über die Klasse zu verlieren. Noch heute brauchen die Lehrer für ein Unterrichtsbeispiel auf dem iPad rund 30 Minuten. Die Schüler sind in spätestens acht Minuten fertig, klärt er auf. "Im Gegensatz zu den Lehrern haben sie keine Angst, dass sie etwas falsch drücken", befindet er. "Wenn der Schüler sieht, dass es nicht passt, dann drückt er ‚zurück‘. Das ist für ihn das Normalste auf der Welt." Es ist eine Generation, die in der digitalen Welt aufwächst. "Sie haben keine Angst mehr, dass etwas gelöscht wird, sie probieren einfach."
Ob die digital fitten Schüler der NMS einmal einen Job in der IT ergreifen wollen? "Nein, wieso?", lautet die Antwort der meisten Schüler auf Nachfrage der "Wiener Zeitung". Stattdessen sind es gewöhnliche Berufe aus der analogen Welt wie Frisör, Polizist, Architekt. Kaum einer möchte hingegen Programmierer werden. Die Antworten zeigen, wie alltäglich Digitalisierung für sie geworden ist. Es wäre so, als hätte man Schüler vor 20 Jahren gefragt, ob sie später einmal Hefte binden oder Schriftsetzer werden wollen. Lernen, Kommunikation mit Freunden, Einkaufen. Ihre Welt ist digital, es ist für sie nichts Besonderes.
Nur jede zweite österreichische Schule hat WLAN
Den gewöhnlichen Umgang mit der digitalen Welt sollen nun alle Schüler in Österreich erlernen, wenn es nach der Regierung geht. 320 Millionen Euro sollen in die Einführung des digitalen Klassenzimmers fließen, heißt es. Bundeskanzler Sebastian Kurz sagte: "An allen Schulstandorten wird es Tablets geben." Flächendeckend bis 2022. Bildungsminister Heinz Faßmann, Digitalisierungsministerin Margarete Schramböck und Kurz (alle ÖVP) posierten dafür mit Schulkindern, die in ihr Tablet blicken. In wenigen Wochen wollen sie einen Masterplan für Digitalisierung präsentieren.
Ob die Tablets tatsächlich flächendeckend Teil des Unterrichts sein werden, wollte man im Bildungsministerium nicht sagen. Der Fokus des Masterplans liegt jedenfalls bei der Ausbildung der Lehrer, den Lehrplänen und dem Ausbau der Infrastruktur. Derzeit verfügt nur jede zweite Schule in Österreich über einen WLAN-Anschluss.
Auch die Stadt Wien zeigt sich ambitioniert. Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) rief bei seinem Amtsantritt vor einem Jahr eine Digitalisierungsoffensive aus, auch er ließ sich medienwirksam mit Schulkindern und Tablets ablichten. Genauso wie bei der Regierung steht die Umsetzung aber noch aus.
Die Tablets der beiden Wiener NMS werden vom Jungunternehmen McWerk konfiguriert. Auf jeden Schüler mit Namen und Log-in. Am Anfang des Schuljahrs werden die Geräte gesammelt an die Schulen übergeben. Vor fünf Jahren gegründet, tritt McWerk proaktiv an Österreichs Schulen heran, Unterstützung von der Politik gibt es keine. Projektleiter Thomas Koch sagt: "Der Bund und die Stadt warten aufeinander, dass wer was tut."
Tablets werden von den Eltern finanziert
Auch die NMS Feuerbachstraße ist auf sich allein gestellt. "An uns ist noch niemand herangetreten", sagt die stellvertretende Direktorin Maria Liebhart und zieht die Augenbrauen zusammen. Die Politik habe sie enttäuscht. Der erhebliche Mehraufwand, der Zeiteinsatz werde nicht abgegolten, sagt sie. Statt der Politik kümmern sich die Eltern der Schüler. "Ohne die Eltern könnten wir das alles nicht machen." Sie finanzieren die meisten Tablets. Familien, die es sich nicht leisten können, werden trotz knappem Budget von der Schule unterstützt. Es sind ebenso die Eltern, die dafür zahlen, dass alle Klassen WLAN haben.
Wo für sie der Schwerpunkt liegt, ist eindeutig. Die Eltern geben lieber mehr als 300 Euro für ein iPad aus, als 150 Euro zu zahlen, damit ihr Kind auf Sportwoche fahren kann, erzählt Liebhart. Denn auch die Eltern der NMS-Kinder kennen die Statistik, wissen, dass es für ihre Kinder schwer wird mit dem sozialen und ökonomischen Aufstieg in dieser Schulform. Doch die digitale Bildung, die sie in ihrer Schule erfahren, könnte die gläserne Decke durchbrechen, könnte sie in der Gesellschaftshierarchie nach oben klettern lassen.
Gesellschaftlich oben mitspielen, ein Bewusstsein bekommen, dass sie es einmal besser haben werden, als ihre Eltern. Es wird schwierig für die Schüler aus den NMS, trotz iPad und digitalem Unterrichtskonzept.
"Es ist eine Brennpunktschule", sagt Liebhart. "Nichtsdestotrotz werden die Schüler einen Vorteil daraus ziehen."