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Die serbische Intellektuelle Srbijanka Turjalic über die Probleme ihres Landes.
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"Wiener Zeitung":Was sollen die Neuwahlen Serbien bringen? Sie wurden mit dem Argument ausgerufen, Reformen voranzubringen, allerdings war Serbien inmitten eines Reformprozesses?
Srbijanka Turajlic: Ich bin nicht sicher, ob das wirklich mit Reformen zu tun hat. Eher mit der Überzeugung der größten Partei, der SNS, ein größeres Stück Macht zu bekommen, mit mehr Stimmen und damit mehr Parteileuten an den verschiedensten Stellen. Alle Frage, die die Sozialpolitik oder die Verbesserung des Lebensstandards betreffen, sind nachrangig.
Es geht also darum, dass SNS-Chef Aleksandar Vucic seine Stärke beweist. Aber wie mächtig ist er?
Umfragen sagen: sehr. Wie in vielen Ländern, die sich in einer wirtschaftlich aussichtslosen Lage befinden, ist es nicht ungewöhnlich, dass die Augen auf einen Menschen gerichtet sind. Weil man keine andere Lösung findet, glaubt man an die Figur des Retters. Umso wichtiger ist die Rolle der Opposition.
Die größte Oppositionspartei DS hat ihr langjähriges Aushängeschild Boris Tadic verloren. Welche Chance hat die Opposition?
Ich gehöre zu denen, die davon überzeugt sind, dass die Wahlen 2012 nicht die SNS gewonnen hat, sondern dass Ex-Präsident Tadic wegen seiner Politik verloren hat. Wenn das stimmt, dann können die traditionellen DS-Wähler der Partei wieder zu einem bedeutenden Platz im Parlament verhelfen. Aber die Leute mögen es, für die Partei zu stimmen, die derzeit regiert. Die DS hat zudem den Eindruck erweckt, dass es ihr nicht um den Staat und die staatlichen Institutionen geht und sie hat nicht ernsthaft mit der Korruption abgerechnet. Die Frage ist, inwieweit man kommunizieren kann, dass eine gute Regierung eine gute Opposition braucht.
Die Parteien von Vizepremier Aleksandar Vucic und Premier Ivica Dacic haben eine fragwürdige Vergangenheit im Regime Milosevic. Wie erklären Sie sich die Amnesie in der Bevölkerung?
Wir sind eine Gesellschaft, die nie wirklich das Kapitel der 1990er Jahre geöffnet hat. Die Beschäftigung mit der Geschichte würde dazu führen, dass man sich die Frage der Verantwortung jedes Einzelnen stellt. Man kann nicht sagen, dass alle Wähler von Milosevic schuld an dem waren, was passiert ist, aber sie tragen einen Teil der Verantwortung. Man kann das vielleicht entfernt mit dem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" vergleichen. Wenn man ein Regime hat, das aus populistischen Gründen viele Unterstützer findet, braucht man viel Zeit, dort auszubrechen. Die geschichtliche Aufarbeitung in Deutschland erfolgte 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als die ganze Welt gemahnt hat, dass sich so etwas nie wieder wiederholen darf. Wir hatten diese Gelegenheit nicht. Ein Grund ist, dass die Welt keine konsistente Politik gegenüber Serbien verfolgt hat. Nach dem Dayton-Abkommen bezeichneten europäische und andere Medien Milosevic als "Garanten für Frieden", 1998 wurde er der "Schlächter vom Balkan". Global wurde er im Kontext der Regionalpolitik betrachtet. Wenn es günstig war, ihn zu unterstützen, wurde er unterstützt, wenn nicht, dann wurde er angegriffen. Er aber hat immer die gleiche zerstörerische Politik verfolgt. Daher wird das Volk bei Vucic und Dacic sehr leicht vergessen, wenn das auch Brüssel und Washington tun.
Wie beurteilen Sie die Lebenssituation in Serbien heute?
Wirtschaftlich gesehen stehen wir sehr schlecht da. Und wir hätten Probleme, Leute zu Protesten aufzurufen, weil man ihnen nichts anzubieten hat. In den 90ern war das viel leichter, weil man wusste, wogegen man ist. Unglücklicherweise haben wir danach eine demokratische Regierung bekommen, die in zwölf Jahren nichts weitergebracht hat. In den 90ern kam es zu einem Zerfall der Gesellschaft, und damit meine ich ihre Institutionen wie Parlament, Justiz und andere. Danach hat niemand den Willen gezeigt, sie zu stärken. Jeder hat sie als Beute betrachtet. In allen Justizreformen ging es darum, seine Richter dahin zu setzen, wo man sie haben wollte. Wenn so ein Zustand erreicht ist, dann ist der Boden für eine populistische Politik aufbereitet, die mir Angst macht.
Welche Rolle wird der jetzige Premier Dacic, der nun sogar für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde, nach den Wahlen haben?
Ich sage immer im Scherz, er ist einer der letzten Kumrovac-Schüler, wo es eine kommunistische Politschule gab. Denn die SPS (Milosevics Sozialistische Partei, Anm.) wäre die Partei gewesen, die nach 2000 hätte verschwinden müssen. Aber nicht nur, dass sie nicht weg ist, sie hat nach zwölf Jahren auch den Premier gestellt. Das spricht für seine Fähigkeiten, sich in der Politik zu halten. Der Friedensnobelpreis war von jeher ein politischer Preis und hat nichts mit Frieden zu tun. Dacic hat sich sehr kooperativ gegenüber dem Westen gezeigt. Und für die Region ist es von Bedeutung, dass er und der kosovarische Premier Hashim Thaci sich an einen Tisch gesetzt haben.
Srbijanka Turjalic ist Elektrotechnikerin und lehrte bis zu ihrer Pensionierung 2011 an der Universität Belgrad. Sie war Teil der Widerstandsbewegung gegen Slobodan Milosevic.