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Guy Standing gilt als Miterfinder des bedingungslosen Grundeinkommens. Eine Idee, die nach Meinung des britischen Ökonomen heute aktueller ist denn je. Denn mit dem von ihm beschriebenen globalen Prekariat entsteht gerade eine neue soziale Klasse.
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Guy Standing von der SOAS University of London ist einer der streitbarsten Ökonomen. Als einer der Ersten forderte er das bedingungslose Grundeinkommen. Jetzt sieht er einen radikalen Wandel durch eine neue Klasse kommen - das Prekariat.
"Wiener Zeitung": Professor Standing, werden Sie noch immer ausgelacht, wenn Sie Ihre Idee des bedingungslosen Grundeinkommens präsentieren?
Guy Standing: Inzwischen kann man beinahe von einer seriösen Debatte sprechen. Ich werde zu Treffen der Wirtschaftselite in Brüssel und Davos eingeladen und ebenso von eher linken Gruppen. Aber Sie haben recht: Als wir in den 1980er Jahren die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens propagiert haben, wurden wir richtiggehend ausgelacht. Und die Leute haben uns natürlich als Kommunisten beschimpft.
Bei Marx und Engels sollte es letztlich nur zwei Klassen geben, die Bourgeoisie und das Proletariat. Sie haben nun eine dritte Klasse hinzugefügt - das Prekariat. Was ist passiert?
Was wir seit einiger Zeit erleben, ist eine Fragmentierung der traditionellen Klassen. Die plutokratische Elite an der Spitze hat mit der klassischen Bourgeoisie nichts mehr zu tun. Diese Leute machen ihr Geld nicht, indem sie etwas produzieren, sondern sie werden immer reicher, weil sie etwas besitzen. Sie lukrieren enorme Einkommen aus Immobilien, Wertpapieren oder Patenten. Dann gibt es das Proletariat mit festen Löhnen, mit Sozialversicherung und so weiter. Die Wohlfahrtsstaaten des 20. Jahrhunderts waren für diese beiden Gruppen gebaut. Aber diese beiden Gruppen schrumpfen, und darunter gibt es jetzt das Prekariat als eine neue soziale Klasse.
Das besondere Kennzeichen dieses Prekariates ist Ihrer Definition nach die große Unsicherheit, in der diese Menschen leben, weil sie keine festen Jobs mehr haben.
Der globale Kapitalismus braucht Leute, die sehr flexibel und mobil sind, die ihren Job erledigen und wieder weg sind; eine Klasse, die weniger Rechte hat als andere Arbeitnehmer. Das ist ein ganz zentraler Punkt des Systems. Meiner Meinung nach sollte man diese Form von Arbeitsbeziehung nicht völlig ablehnen, aber wir müssen auf die damit verbundenen Auswirkungen reagieren. Die wachsende Unsicherheit wird auch die Familien in Österreich treffen. Und das birgt politischen Sprengstoff in sich.
Was könnte passieren?
Immer mehr Menschen werden Populisten und Neo-Faschisten unterstützen: Donald Trump, Marine Le Pen, Norbert Hofer.
Die Leute wählen aber auch Tsipras in Griechenland, Podemos in Spanien, Corbyn in Großbritannien. Das Prekariat ist offenbar keine sehr homogene Gruppe.
Richtig, genau genommen haben wir es innerhalb des Prekariats mit drei Gruppen zu tun. Die erste nenne ich die Atavisten, die nur in die Vergangenheit schauen. Die wählen rechts. Die zweite Gruppe, die Migranten, wählen gar nicht. Und die dritte Gruppe, das sind progressive junge Leute an den Unis, die keine Aussicht auf einen seriösen Job haben. Diese jungen Leute sind zornig. Sie wollen eine bessere Politik. Sie wollen eine neue Verteilungspolitik, eine ökologische Wende, eine gerechtere Welt.
Okay, diese Ideen sind aber auch nicht ganz neu.
Aber diese Leute glauben zutiefst daran. Das macht den Unterschied. Der Glaube ist entscheidend für jede Art von progressiver Politik. Es gibt viel Energie. Die Gruppe dieser jungen Leute wird in den nächsten zehn Jahren eine progressive Politik bestimmen. Wir alle müssen Druck machen, sonst wird die Politik nichts tun.
Sie nennen in Ihren Büchern als positive Beispiele sehr unterschiedliche Bewegungen wie Occupy-WallStreet oder Podemos in Spanien. Nun ist Occupy sehr rasch wieder verschwunden. Die anderen Bewegungen, die Sie nennen, bauen Strukturen auf und sind in kürzester Zeit von den klassischen Parteien nicht wirklich zu unterscheiden, wie das mit Podemos passiert ist.
Neue Parteien verändern die alten Parteien, sie verändern die Gewerkschaften und haben Einfluss auf andere soziale Bewegungen. Das Bemerkenswerte an Podemos ist: Solange es eine radikale Bewegung war, gab es eine Menge Unterstützung. Als sie dann aber eine konventionelle Politik mit einem bürgerlichen Programm gemacht haben, war die Unterstützung sofort weg. Die haben jetzt ihre Lektion gelernt, dass sie eine progressive unbequeme Kraft sein müssen.
Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen würden Sie nicht das System ändern, sondern gewisse Symptome des Kapitalismus lindern. Andere Auswüchse wie der Raubbau an den globalen Ressourcen und der Klimawandel könnten munter weitergehen.
Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen würden sich die Menschen ändern. Wer Sicherheit hat, entwickelt mehr Vertrauen. Die Menschen würden mehr Druck auf den Staat ausüben, um andere Veränderungen zu fordern. Aus der Psychologie wissen wir, dass Menschen, die in Sicherheit leben, sich mehr für das Schicksal anderer engagieren. Sie sind solidarischer, und das ist es, was wir brauchen. Wir müssen weg von diesem egomanischen, individualistischen Kapitalismus. Keine Leistungsgesellschaft um der Leistungsgesellschaft willen, denn die endet unweigerlich in einem Sozialdarwinismus, wo Schwächere nach ökonomischen Kriterien bewertet und dann irgendwie aussortiert werden. Das bedingungslose Grundeinkommen ist eine Möglichkeit, den Leuten die Kontrolle über ihr Leben zurückzugeben.
Sie glauben, die Menschen würden lieber Geld fürs Nichtstun kassieren, als einen gut bezahlten Job zu haben?
Das ist kein Widerspruch. Wenn sie das Grundeinkommen haben und Sie möchten ihr Leben verbessern, dann suchen Sie sich eben einen Job. Aber wenn Sie in sozialer Sicherheit leben, dann haben sie eine ganz andere Möglichkeit, einem ausbeuterischen Chef zu sagen: "So nicht, ich möchte einen würdigen Lohn und würdige Arbeitsbedingungen!" Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen stärkt man die Verhandlungsposition der Leute. Mit dem bedingungslosen Grundeinkommen würden sie sich eher auf einen neuen Job umschulen lassen oder ein unternehmerisches Risiko eingehen. Sie würden insgesamt produktiver werden. Es ist eine der dümmsten Annahmen zum Grundeinkommen überhaupt, dass die Leute dann faul werden. Alle Versuche wie zuletzt in Finnland zeigen das Gegenteil.
Als Ökonom haben Sie sicher Kosten und Nutzen eines bedingungslosen Grundeinkommens für einzelne Volkswirtschaften berechnet.
Ich habe das für mein neues Buch getan, selbstverständlich. Wir können uns das leisten. Zur Finanzierung gibt es verschiedene Modelle, beispielsweise Steuern auf Energie. In Indien gab es gerade einen Pilotversuch. Am Ende sagte der Finanzminister im Parlament, dass sie sich das ausgerechnet hätten. Ergebnis: Indien kann sich ein bedingungsloses Grundeinkommen leisten. Und wenn Indien es sich leisten kann, dann muss das auch für England oder Österreich möglich sein.
Wenn wir es uns leisten können, wo liegt dann das Problem? Warum haben wir das BGE noch nicht?
Die Herausforderung ist eine politische. Sie müssen sehr viele Leute davon überzeugen, dass sie Vertrauen in unsere Mitbürger haben müssen.
Guy Standing ist Professor für Entwicklungsforschung an der School of Oriental and
African Studies der Universität London und Co-Präsident des "Basic
Income Earth Network", das sich für ein Grundeinkommen einsetzt. Von
1975 bis 2006 war der 69-Jährige für die Internationale
Arbeitsorganisation (ILO) tätig. 2011 erschien sein Buch über das
Prekariat. Standing war auf Einladung des Salzburg Global Seminar im
Schloss Leopoldskron.