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Für Geißler kann Bürgerbeteiligung auch auf EU-Ebene funktionieren.
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"Wiener Zeitung":Entscheidungsfindungen auf europäischer Ebene, wie zuletzt beim ESM-Vertrag, sorgen regelmäßig für Diskussionen. Wäre Bürgerbeteiligung Ihrer Meinung nach auch auf EU-Ebene möglich?Heiner Geißler: Nein. In Deutschland wäre es nur möglich, wenn vorher die Verfassung geändert wird. Das kommt also in absehbarer Zeit nicht in Frage, weil eine Grundgesetzänderung ziemlich lange dauert.
Aber sollte es die rechtlichen Rahmenbedingungen geben, glauben Sie, dass direkte Demokratie auch auf EU-Ebene funktionieren kann?
Das halte ich für möglich. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir in Europa endlich eine echte politische Union bekommen, mit einem zuständigen Parlament und einer europäischen Regierung.
Sie sehen die Stärken der direkten Demokratie bei lokal begrenzten Projekten etwa in der Infrastruktur. Stößt dieses Instrument auf EU-Ebene nicht an seine Grenzen?
Das kommt auf das jeweilige Verfahren an. Wir brauchen heute die Möglichkeit einer unmittelbaren Beteiligung der Bürger. Sowohl bei umstrittenen Großprojekten wie auch für die Gesetzgebung. Dem muss aber ein umfassender, total transparenter Faktencheck mit einer umfassenden Information der Bevölkerung vorausgehen.
Ein solcher Faktencheck benötigt aber Zeit. Gerade auf EU-Ebene wird oft auf den Zeitdruck für rasche Entscheidungen verwiesen.
Aus diesem Grund müsste bei kurzfristigen Entscheidungen in einem vom Parlament beschlossenen Verfahren eine Lösung gefunden werden. Zum Beispiel könnte ein vom Bundestag dazu gewählter Ausschuss relativ rasch quasi als Ersatzparlament für Entscheidungen auf internationaler Ebene zur Verfügung stehen.
Schon jetzt müssten derartige EU-Verträge, die ja notwendig sind, transparent gemacht werden. Solange wir noch keine europäische Verfassung haben, die eine europäische Volksabstimmung ermöglicht, brauchen wir auf europäischer Ebene und innerhalb der einzelnen Nationalstaaten eine umfassende Aufklärung. Dazu bietet sich ebenfalls ein Faktencheck an.
In Stuttgart, wo Sie beim Projekt "Stuttgart 21" als Schlichter engagiert waren, wird der umstrittene Bahnhof nun nach einem Faktencheck und einer Bürgerbefragung gebaut. Provokant gefragt, kann die direkte Demokratie da nicht auch ein Mittel sein, den Bürgern das schmackhaft zu machen, wogegen sie protestiert haben?
Es geht um die Informationen, die die Leute haben. Das hat doch mit schmackhaft machen überhaupt nichts zu tun. Wenn man einen umfassenden Faktencheck macht, der auf Augenhöhe erfolgt, bei dem alle Fakten auf den Tisch kommen, und wenn das alles völlig transparent ist, dann verfügen die Leute über ausreichende Information, um dann auch darüber abstimmen zu können. Die Leute sind ja nicht blöd, sondern durchaus in der Lage, sich ein eigenes Urteil zu bilden.
Was ist das größere Problem: das Misstrauen der Bürger gegenüber den Politikern oder das Misstrauen der Politiker gegenüber den Bürgern?
Es gibt eine gewisse Arroganz der Politiker gegenüber dem Volk. Als ob das Volk zu dumm wäre, solche Entscheidungen zu treffen. Aber: Die Leute können sich informieren und sind deshalb auch in der Lage solche Entscheidungen zu fällen. Der Vorteil besteht darin, dass die Projekte dann auch mit der Beteiligung der Betroffenen realisiert werden können. Ohne Bürgerbeteiligung werden Großprojekte in Zukunft nicht mehr durchgesetzt werden können.
Zur Person
Heiner Geißler
Der frühere deutsche Gesundheitsminister war zwölf Jahre lang Generalsekretär der CDU. In den letzten Jahren sorgte Geißler mit seiner Hinwendung zu liberalen bis linken Positionen, vor allem in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, für Überraschung. Zuletzt leitete er die Schlichtungsgespräche zum umstrittenen Stuttgarter Bahnhofsprojekt S21. Geißler war auf Einladung der ÖVP Salzburg und des Seebrunner Kreises in Salzburg.