Überall offene Arme für schiitische Flüchtlinge. | Kirchen verzeichnen starken Besuch. | Beirut. Die vielen Restaurant- und Cafébesitzer auf der Rue Monot haben die Rollläden unten gelassen. Nur wenige Autos fahren Beiruts Ausgehmeile Nummer eins entlang. In Friedenszeiten kommt es hier freitags und samstags noch nachts um drei zu Staus. Doch nun herrscht gespenstische Ruhe.
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Völlig verlassen erscheint auf den ersten Blick auch das achtstöckige Wohnhaus der Beiruter Jesuiten, gelegen in einer Seitenstraße der Rue Monot. Erst als ein zufällig vorbeigekommener Pater Sturm klingelt, meldet sich eine Stimme an der Haussprechanlage. Es ist die von Nassar Joseph, dem Leiter der in Beirut etwa dreißig Mann starken Jesuitengemeinde des Viermillioneneinwohnerlandes. Ein Mann des Wortes, ein Mann des Ausgleichs.
Schon seit dem 19. Jahrhundert sind die katholischen Missionare im konfessionellen Leben des Libanon eine feste Größe.
Es geht in der jetzigen Situation nicht darum, einander Anschuldigungen zu machen", sagt Nassar Joseph. Er spricht von der Gefangennahme zweier israelischer Soldaten durch Milizen der Hisbollah am 12. Juli, dem Auslöser für den neuen Libanon-Krieg. Gut heißt der 55-jährige die Aktion nicht. Angesichts der gewaltigen Wiederaufbauleistung, die das Land vor sich hat, stellt er jedoch die Gegensätze zwischen den schiitischen Anhängern der Hisbollah und christlichen sowie sunnitischen Bevölkerungsgruppen hinten an. "Man darf nicht vergessen, was die Hisbollah gemacht hat, aber Priorität genießen nun das Bewahren des inneren Zusammenhalts der Nation und der anstehende Wiederaufbau."
Jesuiten leisten humanitäre Hilfe
Dafür engagieren sich die Jesuiten im ganzen, nur wenig mehr als 10.000 Quadratkilometer großen Land. "Humanitäre Hilfe ist jetzt das Gebot der Zeit", sagt Joseph. In Saida, der 35 Kilometer südlich von Beirut gelegenen Küstenstadt, versorgen die Jesuiten-Pater rund 300 Flüchtlinge mit Nahrung und stellen ihnen Schlafstätten zur Verfügung. Nahe Zahlé, der am Westrand der seit Tagen bombardierten Bekaa-Ebene gelegenen Bergstadt, sind Josephs Glaubensbrüder ebenfalls aktiv. "Wir halten auch dort die Stellung, bei uns sind die Leute in Sicherheit." Rings um Zahlé und das weiter nordöstlich gelegene Baalbek haben die israelischen Luftangriffe Tausende Bewohner in die Flucht getrieben. Über die Berge nach Beirut oder ins nahe gelegene Syrien.
Im schattigen Vorgarten der Jesuiten-Residenz könnte man fast vergessen, dass inzwischen Brücken, Straßen, Milch- und Papierfabriken, Tankstellen, Wohnhäuser und vieles mehr im ganzen Land zerstört sind.
Nicht nur im Süden, im von der israelischen Grenze bis zum Fluss Litani hinauf reichenden Landstrich, wo die Hisbollah-Führung um Generalsekretär Hassan Nasrallah breite Unterstützung genießt. Nein, auch im Norden, in den nahe der nordlibanesisch-syrischen Grenze gelegenen Küstenstädte Tripoli und Abdé. Im Osten, in der an Syrien angrenzenden Bekaa-Ebene. Und natürlich im Süden Beiruts, wo Nasrallah und seine Kader bis vor zwei Wochen ihr Hauptquartier hatten und wohl bis heute Unterschlupf finden.
"Die Tatsache, dass die schiitischen Flüchtlinge überall mit offenen Armen empfangen werden, zeigt, wie intakt der libanesische Geist, wie intakt die libanesische Gesellschaft ist", sagt Pater Joseph.
Flüchtlinge in Schulen und Kirchen Beiruts
Schulen und Kirchen in den christlich dominierten Vierteln der libanesischen Hauptstadt haben Tausende vor allem aus dem Südlibanon geflohene Bewohner aufgenommen, Aschrafieh, Sin el Fil und Forn el Hayek lauten die Namen nur einiger der zu Flüchtlingsherbergen mutierten Ostbeiruter Stadtteile. "Die Christen zeigen eine sehr tief gehende menschliche Solidarität - das ist eine gute Grundlage, auf der Verständigung nach Ende des Konflikts gedeihen kann."
Schon seit fast zwei Wochen nun sind die vielen griechisch-orthodoxen, griechisch-katholischen, armenisch-katholischen, armenisch-orthodoxen und maronitisch-katholischen Kirchen in ganz Beirut so voll besetzt wie sonst nur an Weihnachten oder Ostern. Allein 300 Gläubige aus den philippinischen und sudanesischen Gastarbeiter-Communities strömten um halb elf in den englischsprachigen Gottesdienst der Jesuitenkirche St. Joseph. An normalen Sonntagen sind es gerade einmal fünfzig.
Auch die arabische Messe am Morgen um neun erfreute sich regen Andrangs, am Abend zum französischen Gebet werden sicherlich viele der meist sehr frankophilen Maroniten in die altene steiner Kirche kommen. Etwa anderthalb der vier Millionen Libanesen sind Christen, die Rom-treuen, aber einem eigenen Patriarchen unterstehenden Maroniten stellen die größte Gruppe.
Nicht in die Kirche gehen wird George Issa, ein Taxifahrer und Anhänger des einstigen christlichen Milizenchefs und heutigen Vorsitzenden der Forces Libanaises, Samir Geagea. Seine Schwester besuche nun täglich den Gottesdienst in der etwas mehr als einen Kilometer vom Jesuiten-Sitz entfernt gelegenen griechisch-orthodoxen Gemeinde St. Maria, erzählt der 43-jährige. Er bleibe aber dabei, lediglich an Ostern das nahe gelegene Gotteshaus zu besuchen. Erst nach Ende des Bürgerkrieges (1975-1990), als Issa auf Seiten christlicher Milizen und später der libanesischen Armee kämpfte, begann er, an Gott zu glauben. Ein Marienbild klebt an der Windschutzscheibe seines roten, mehr als dreißig Jahre alten Mercedes.
Weder Israel noch die Hisbollah
"Ich mag Israel nicht, aber die Hisbollah mag ich auch nicht", sagt Issa, der im Erdgeschoss des Familienhauses im mehrheitlich christlichen bewohnten Aschrafieh vor dem Fernseher sitzt. Es läuft der mit Geldern Geageas gegründete Sender LBC, das mediale Sprachroher der Syrien-kritischen christlichen Community des Libanon. Als Nasrallah im Juni in der wöchentlichen LBC International-Satiresendung "Basmat Watan" karikiert wurde, randalierten Hisbollah-Anhänger die ganze Nacht über.
Nur durch den Einsatz staatlicher Sicherheitskräfte und Hisbollah-Security-Personals konnten Angriffe auf Kirchen verhindert werden.
Christlich-schiitische Kämpfe als Reaktion auf das durch die Hisbollah-Geiselnahme verursachte Massenbombardement des Landes? Ein Schreckensszenario, das weder Pater Joseph, noch Issa für möglich halten. "Die gesamte Bevölkerung steht jetzt zusammen, um möglichst bald ein Ende des Krieges zu erreichen", versichert Issa.