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Die Liberalen und ihr fehlender Massenappeal

Von Gerfried Sperl

Gastkommentare

Jene, die der stark wachsenden Schicht liberaler Intellektueller angehören, sind stark an den Rand gedrückt.


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Alexander Van der Bellen hat die Bundespräsidentschaftswahl nicht wegen seiner grün-liberalen Weltanschauung gewonnen, sondern weil in den Städten die Gegnerschaft zum national-konservativen Milieu dominant war. Im aktuellen Nationalratswahlkampf ist vom Liberalismus als Gegenpol zu Schwarz/Blau nur wenig zu spüren. Die Parteienfinanzierung und die Hitze dieses Sommers waren die Topthemen in den bisherigen TV-Debatten. Das eine steigerte Neugier und Wut, weil vor allem den größeren Parteien ohnehin ein Stück "Ibiza" unterstellt wird. Beim anderen kamen die meisten noch mehr ins Schwitzen, weil kaum jemand nicht betroffen war. Die Klimageräte waren ausverkauft, der Stromverbrauch stieg. Keine Spur von Energiesparen.

Wissenschaft und Forschung aber, deren (kostspielige) Erkenntnisse eine Voraussetzung für die Bewältigung der Klimakrise sind, wurden nur in ein paar Nebensätzen (am Schluss der Debatten) gestreift. Stark an den Rand gedrückt sind damit jene, die der stark wachsenden Schicht liberaler Intellektueller angehören. Sie haben ein Hochschulstudium absolviert und gehören dem Mittelstand an, sind also nicht reich - vor allem auch, wenn sie als Uni-Lehrer und Forscher, als Beamte, als Bedienstete in Kultur und Medien (das Gros der Journalisten), als IT-Experten arbeiten. In seinem jüngsten Buch "Diese verdammten liberalen Eliten" bezeichnet sie der schweizerisch-israelische Psychologe Carlo Strenger als "Meinungsführer, denen aufgrund ihrer Ausbildung und ihres Berufs besondere Autorität zukommt". Ihr Status beruht stärker auf ihrem kulturellen als auf ihrem sozialen und ökonomischen Kapital. Sie sind Liberale, weil sie aufgrund ihres Wissens nicht nur mobil sind, sondern deshalb auch universalistisch. Sie denken eher "an die Menschheit als an die Nachbarn", sind jedoch bei Problemlösungen gefragt. Die Kehrseite: Es schlägt ihnen weniger materieller Neid entgegen, sondern vielmehr ein Gefühl der Unterlegenheit. Von Patrioten, Religiösen und Bodenständigen werden sie, meint Strenger, als "abgehoben" empfunden. Ihr Fehler sei oft, dass sie ihre geistigen Vorteile die Umgebung auch spüren lassen.

Populisten und Separatisten nutzen diese Gemengelage aus: zuletzt die AfD im Osten Deutschlands, davor die Brexit-Gegner außerhalb Londons und anderer größerer Städte, die Lega Nord seit einigen Jahren zunehmend in Süditalien. Die FPÖ hat in Wien und in den Landeshauptstädten ebenfalls geringere Prozentsätze - vor allem in den Wahlbezirken mit Hochschulen oder Industrien mit hohen Quoten an Forschungspersonal. Von den Populisten nicht oder nur selten attackiert werden die Wirtschaftsliberalen, die auf der anderen Seite des liberalen Spektrums stehen und seit zwanzig Jahren von Kritikern wegen ihres ungebrochenen Kampfes für ungebremste Marktmacht Neoliberale genannt werden. In der US-Regierung unter Präsident Donald Trump haben oder hatten sie ebenso das Sagen wie bei den Londoner Konservativen unter Theresa May oder im Kabinett von Giuseppe Conte und dessen Vizes Matteo Salvini (Lega) und Luigi Di Maio (Fünf Sterne). Die FPÖ, in Wahlkämpfen scheinbar eine Arbeiterpartei, geriert sich, einmal an der Macht, ebenfalls wirtschaftsliberal.

Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität München, argumentierte kürzlich in einem "Spiegel"-Interview, dass die verkrusteten sozialliberalen, trotzdem aber überregulierten und staatlich gehegten Strukturen vor vierzig Jahren einer Reform bedurften - angesichts von Budgetdefiziten und Massenarbeitslosigkeit. "In diesem Moment betraten Wirtschaftstheoretiker und vor allem Unternehmensberater die Bühne und sagten: Wir brauch mehr Effizienz, mehr Wettbewerb. Wir haben die Instrumente, um die Krise zu bewältigen. Auf so was hören Politiker sehr gern. Egal, welcher Farbe sie angehören." Die Folge war zwar ein Wohlstandszuwachs, aber auch ein größeres Auseinanderdriften von Reich und Arm. Stichwort Hartz IV in Deutschland.

"Freiheit kann offenbar auch mehr Ungleichheit bedeuten"

Vor allem zur Rechten wuchs die Opposition. Die Parteien der Mitte, die ehemaligen Volksparteien, tun sich schwer, außer sie haben Charismatiker wie die ÖVP in der Person von Sebastian Kurz. Der Preis der wirtschaftlichen Freiheit der vergangenen zwanzig Jahre war offenbar das Entstehen einer Heerschar von tatsächlichen oder vermeintlichen Abgehängten. Wirschings Antwort: "Freiheit kann offenbar auch mehr Ungleichheit bedeuten. Dass die Neoliberalisierung bei vielen Menschen das Empfinden der Deklassierung hervorruft . . . Weshalb sie sich auf den Nationalismus zurückziehen bis hin zum Rechtsextremismus."

Die Kulturliberalen sind nicht populär, weil sie als links und volksfern empfunden werden, die Wirtschaftsliberalen und Geldmanager ebenfalls nicht, weil sie für die Finanzkrise 2008 als Verursacher gelten und die Steuerzahler mit ihrem Geld auch noch die Banken retten mussten. Strenger nennt eine weitere Schwäche der Liberalen, vor allem der Kulturliberalen. "Die meisten Intellektuellen neigen zu umständlichen Erläuterungen und verlieren das Publikum binnen Sekunden. Zudem sind sie an ruhige, zivilisierte Umgangsformen gewöhnt, während sich populistische Politiker die Hitzigkeit rhetorischer Schlachten sehr versiert zunutze machen. Deshalb enden solche Auseinandersetzungen selten gut für die Verteidiger von Wahrheit und Rationalität." Dazu kommt, dass die Sozialen Medien keine Komfortzone des politischen Diskurses sind. Qualitätszeitungen gleichen sich zunehmend dem rowdyhaften Stil und dem Verlust der Privatheit an.

Politikerinnen wie Pamela Rendi-Wagner, die in der wissenschaftlichen Community sozialisiert wurde und als Gesundheitsministerin immer noch eine Art Schutzprogramm durchlief, tun sich mit dem Umstieg in die Brutalität der praktischen Politik immer noch schwer. Beate Meinl-Reisinger, im liberalen Milieu Wiens aufgewachsen, ist im Vergleich zur SPÖ-Spitzenfrau ein rhetorisches Ausnahmetalent. An der Spitze der ÖVP wäre Meinl-Reisinger wohl nicht viel weniger wirksam als Kurz, einer Volkspartei allerdings, die Erhard Buseks Linie entsprechen müsste. Werner Kogler wäre als SPÖ-Spitzenkandidat ein populärer Volkstribun. Aber der vom oststeirischen Dorfmilieu Geprägte kommt weder aus der Gewerkschaft noch aus der roten Lehrerschaft.

Meinl-Reisinger versteckt, obwohl oder weil die Neos beide liberale Flügel vertreten, deren ideologischen Hintergrund. Das Dilemma der Liberalen ist, dass sie deshalb oft zwischen allen Sesseln sitzen und ihnen nur die Nischen bleiben. Kulturliberal und Neoliberal sind nur dort vereinbar, wo man sich’s leisten kann - bei Industriellen à la Haselsteiner, dem Hauptfinancier der Neos.