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Die Lofts der Unterschicht

Von Solmaz Khorsand aus Brüssel

Politik

Sozialer Wohnbau ist in Brüssel eine Rarität. Eine Initiative macht die Ärmsten zu Hauseigentümern.


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Brüssel. Ein Traum ist wahr geworden. Diesen Satz wiederholt Aissah Dmam immer wieder. Ab und zu dreht sich der Mittdreißiger um, wenn er spricht. Fast so, als wolle er sich vergewissern, dass er noch dasteht, sein Traum. Es ist ein dunkelgraues Haus, hier an der Kreuzung des Quai de Mariemont und der Chaussée de Ninove im Bezirk Molenbeek, im Norden des Zentrums von Brüssel. Für den Laien ist es ein Neubau in Tetris-Optik. Neun Wohnungen. Drei Stockwerke hoch. Drei kleine Gitterbalkone. Und ein paar futuristische Würfelfenster dazwischen. Nichts Spektakuläres. Doch Aissah Dmam hat hier seine Dreizimmer-Wohnung. Sie gehört ihm, dem einst arbeitslosen Belgier marokkanischer Herkunft. Sie ist sein Eigentum.

"Wir besitzen das Land"

"Mariemont." So heißt Aissah Dmams Haus. Es ist das erste Projekt des CLT Brüssels, einem gemeinnützigen Konsortium verschiedener Akteure, die einkommensschwächere Familien in Brüssel mit Wohnraum versorgen wollen. Sozialer Wohnbau ist in Brüssel spärlich gesät. Knapp 8 Prozent der Wohnungen sind dafür vorgesehen. Zum Vergleich: In Wien sind es 42 Prozent. Während hier 220.000 Gemeindewohnungen und rund 200.000 geförderte Wohnungen einkommensschwächeren Familien (und anderen) zur Verfügung stehen, sind es in Brüssel knapp 40.000 Wohnungen. Die Nachfrage nach ihnen ist groß in der 1,1-Millionen-Stadt.

2015 standen 45.742 Haushalte auf der Liste der Antragsteller. Und von Jahr zu Jahr wird die Liste länger. Die Stadtverwaltung versucht, des Problems Herr zu werden. Doch hat sie mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Die Stadt ist zusammengesetzt aus 19 Gemeinden. Und jede Gemeinde, ähnlich strukturiert wie Wiens Bezirke, bestimmt, ob und in welchem Ausmaß sie sozialen Wohnbau in ihren Häuserreihen ansiedeln möchten. Weigert sich ein Stadtteil, kann er nicht gezwungen werden. Die Konsequenz: Die Reichen bleiben unter sich. Und alle anderen haben zwei Möglichkeiten: Sie geben sich mit kleineren Wohnungen zufrieden. Oder sie ziehen weg. Hier kommt CLT ins Spiel. Das Kürzel steht für Community Land Trust, eine Idee, die 1969 im US-Staat Georgia unter afroamerikanischen Landarbeitern entwickelt wurde - und bis heute weltweit zum Einsatz kommt. Das Konzept: Das Konsortium kauft Land, baut Wohnungen darauf, die dann an einkommensschwache Gruppen verkauft werden. Da der Preis der Wohnung vom Grundstückspreis entkoppelt ist, kann sie günstiger an die Familien verkauft werden.

Mit dem Kauf des Grundstückes soll vor allem Immobilienspekulanten das Wasser abgegraben werden. "Wir besitzen das Land und wir werden es nie verkaufen, denn wir sagen: Land ist ein öffentliches Gut und soll nicht verspekuliert werden", erklärt Geert de Pauw vor einer Gruppe von Studenten, Stadtentwicklern und Journalisten, die auf Einladung des EU-Ausschusses der Regionen aus ganz Europa gekommen sind, um sich das Projekt näher anzusehen. Geert De Pauw gehört zu den Mitbegründern des CLT Brüssel. Vor 16 Jahren hat sich der Sozialarbeiter mit diversen Initiativen für das Thema starkgemacht. Damals hat sich bereits abgezeichnet, dass Wohnraum in Brüssel - vor allem für weniger prall gefüllte Geldbörsen - auf Dauer unerschwinglich sein wird. Die Reichen bleiben im Zentrum. Der Rest muss abwandern. Sozialarbeiter, Grätzelaktivisten und Betroffene wollten diesen Trend nicht länger hinnehmen. Herausgekommen ist 2012 das CLT Brüssel.

15 Leuten haben darin das Sagen. Es sind zu je einem Drittel Vertreter der Zivilgesellschaft, der Bewohner und der lokalen Behörden. Ihr Budget kommt von Brüssels Regionalregierung. Es beträgt 2 Millionen Euro im Jahr. Damit kauft CLT das Land. Sechs Grundstücke sind derzeit im CLT-Portfolio. Bis 2018 sollen 120 Wohneinheiten darauf gebaut werden. Die Preise für die Wohnungen sind an das Einkommen der Käufer angepasst. Berechtigt sind nur bestimmte Einkommensgruppe. So darf ein Einpersonenhaushalt nur zwischen 11.000 und 21.000 Euro jährlich verdienen, um für eine CLT-Wohnung in Frage zu kommen. Nach dem Einkommen richtet sich auch der Kaufpreis. So liegt dieser etwa für eine 55 Quadratmeter große Einzimmerwohnung zwischen 80.000 und maximal 140.000 Euro. 40 Prozent des Kaufpreises werden gefördert, für die restlichen 60 Prozent muss der Käufer eine Hypothek aufnehmen. Auch diese wird ihnen unter günstigeren Bedingungen von einem Sozialfonds angeboten. Ziel des CLT ist es, dass die Wohnungen dauerhaft einkommensschwächeren Familien zu Gute kommen. Denn Spekulation macht auch vor dem sozialen Wohnbau nicht Halt. Oftmals wird versucht, eine Wohnung billig zu erwerben, um sie dann teuer weiterzuverkaufen. Dem schiebt CLT einen Riegel vor: Wer seine Wohnung mit Gewinn verkaufen will, muss einen gewissen Anteil an das Konsortium abdrücken. So gewährleistet CLT, dass auch der nächste Käufer die Wohnung zu einem günstigen Preis erwerben kann.

Kunststudentin neben Analphabet

300 Familien stehen derzeit auf der Warteliste des CLT Brüssels. Im Durchschnitt sind es fünf Personen pro Familie. Bei den meisten Antragstellern handelt es sich um Migranten. Geert de Paw weiß um die Bedenken beim CLT-Modell, sind sie doch immer dieselben, wenn es um sozialen Wohnbau geht. Besteht nicht auch hier die Gefahr, dass man unter seinesgleichen bleibt? Dass mit den Lofts von heute die Ghettos von morgen entstehen? Geert de Pauw schüttelt den Kopf. "Bei uns in Brüssel stellt sich diese Frage nicht. Es ist eher die Frage von Gentrifizierung in diesen Gebieten." Man achte bei der Vergabe auf eine soziale Heterogenität. "In dem Moment, wo wir Land kaufen und es besitzen, setzen wir die Gruppe der zukünftigen Bewohner zusammen", erklärt de Pauw das Prozedere.

Die Bewohner werden gecastet. Durchmischt sollen die Häuser sein. Senioren neben minderjährigen Flüchtlingen. Kunststudentinnen neben fünfköpfigen Familien. Marokkanische Frauen neben kongolesischen Männern. Einige haben studiert, andere sind Analphabeten. Jeder Bewohner soll von Anfang an in jeden Prozess eingebunden werden. Sie sollen das Vokabular der Architekten und Planer kennen und verstehen, was hier gebaut wird. Es ist ein zähes Unterfangen. Was sollen wir auf dem Grundstück anlegen? Einen Gemeinschaftsgarten? Oder jeder seinen eigenen? Und wer keinen Garten hat, bekommt der stattdessen einen Balkon? Wochenlang sind die Männer und Frauen in die Büros der Architekten und Stadtplaner gepilgert, haben bis tief in die Nacht die Entwürfe und Pläne ihrer zukünftigen Gemeinschaftsräume, Balkone und Kinderzimmer studiert, erinnert sich Geert de Pauw.

Selbst in der Bauphase hat man sie eingebunden, die Bewohner sollen wissen, aus welchen Materialien ihre Wohnungen zusammengezimmert sind, und sie sollen lernen, damit umzugehen, da jeder Neubau in Brüssel ein Passivhaus sein muss und gewisser Fähigkeiten der Bewohner bedarf, um ihn adäquat zu nutzen. Sie sollen sich nicht als Bittsteller fühlen, die dann mit einem fertigen Produkt abgefertigt werden, sondern als Teil eines zivilen Engagements, das auch nach der Fertigstellung der Gebäude noch fortbestehen soll, so die Intention der Organisatoren. Es ist ein anstrengender Prozess, aber wichtig, sagt Geert de Pauw. Zwei bis vier Jahre dauert dieser Prozess in der Regel. So lange warten die Bewohner auf den Moment, bis sie endlich die Schlüssel in der Hand halten. Zu ihren eigenen vier Wänden. Zu ihrem Traum.