Im Wortlaut: Die Eröffnungsrede von Gregor Seberg: "Von Politikern, Kirchen, Konzernen und anderen, die uns erklären, dass sie uns schützen müssen"
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Dürnstein. Wann und warum können politische Sicherheitsversprechen zu einem Risiko für die Gesellschaft werden - dieser Frage widmet sich ab Donnerstag das Symposion Dürnstein. Dazu diskutieren Experten aus den unterschiedlichsten Disziplinen von Philosophie bis Migrationsforschung, darunter die bekannte US-amerikanische Soziologin Saskia Sassen, die das Symposion mit einem Vortrag über das Verhältnis von staatlicher Überwachung und Gesellschaft eröffnen wird.
Generalverdacht
Sassen hat in den vergangenen Jahren vor allem mit ihren Thesen zur Desintegration und "Ausweisung" aus der Gesellschaft für Aufsehen gesorgt. Darin postuliert sie das zunehmende Phänomen, dass Menschen ihren Platz in der Gesellschaft in einer Art verlieren, die weit über den sozialen Ausschluss hinausgeht. Als Betroffene der Desintegration sieht sie etwa Teile der griechischen Bevölkerung, die Job, Haus und Leben verlieren oder auch US-amerikanische Immobilienbesitzer, gegen die Zwangsräumungen angeordnet werden. Sie kritisiert auch die fortschreitende Nutzung von modernster Überwachungstechnologie - etwa in den USA: Die Logik der totalen Überwachung mache alle Bürger zu Verdächtigen. Bekannt wurde die Soziologin mit ihren Arbeiten zum Begriff der "global cities".
Die Logik der totalen Überwachung mache nicht nur alle zu Verdächtigen, ferner sei ihm eine neue Art des Krieges vrorausgegangen, wie sie in einem Interview mit der deutschen Tageszeitung "taz" sagt. "Wenn der Feind ein anderer Staat ist, ist er sichtbar. Aber jetzt, wo der Bürger, der Immigrant, der Tourist ein Terrorist sein kann, existiert eine Vorstellung totaler Überwachung – auch deshalb, weil wir über die nötigen Technologien verfügen", so Sassen.
Schauspieler Seberg unter den weiteren Gästen
Neben der Soziologin werden unter anderem auch Peter Kampits, Leiter des Zentrums für Ethik in der Medizin an der Donau-Universität Krems, Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer und der Politik- und Literaturwissenschafter Malidoma P. Somé Vorträge zu Themen wie Arbeits-, Energie- oder Klimasicherheit halten. Das Symposion wird von Ursula Baatz, Philosophin sowie langjährige Wissenschafts- und Religionsjournalistin, kuratiert, das kulturelle Rahmenprogramm gestaltet und moderiert der Schauspieler Gregor Seberg.
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Die Eröffnungsrede von Gregor Seberg: "Von Politikern, Kirchen, Konzernen und anderen, die uns erklären, dass sie uns schützen müssen"
Risiko – Sicherheit
Das ist wahrscheinlich ein Thema, das so alt ist wie die Menschheit.
Ohne Risiko gäbe es keinen Fortschritt, ohne Sicherheit könnte der Fortschritt nicht bewahrt werden.
Ich glaube, vor sehr, sehr langer Zeit war noch alles einfacher:
Man hat sein Mammut hinten in der Höhle zum Kühlen aufgehängt und den Fliegen beim Summen zugehört.
Wenn Mammut aus war, hat man die Sicherheit der steinzeitlichen Hängematte aufgegeben und sich auf die Jagd gemacht. Das Risiko, getötet zu werden, wurde verdrängt von der Aussicht auf die Hängematte und die Fliegen.
Es gab niemanden, der schockiert hat mit der Aussage, dass die Mammuts dermaleinst aussterben werden.
Und niemand hat gesagt: "Du sollst nicht töten."
Man fürchtete sich nicht vor einem Gott oder der Zukunft, sondern vor dem Wetter und möglicherweise vor dem Typen aus der Nachbarhöhle, der in seinen Kommunikationsmöglichkeiten genauso eingeschränkt war wie man selbst und deshalb furchterregend.
Aber man wusste auch vergleichsweise wenig über die Welt. Wobei ich mich frage, wie viel Wissen eigentlich nötig ist, um glücklich zu sein. Oder wenigstens ohne Furcht.
Oder ob es sich nicht vielmehr so verhält, dass zuviel Wissen erst Furcht erzeugt. Und das natürlich zuweilen mit Absicht.
Was natürlich nicht automatisch heißt, dass Unwissenheit allein selig machend bzw. erstrebenswert ist.
Heute wissen wir unfassbar viel. Oder vielleicht sollte man besser sagen, wir haben von vielem Ahnung. Wir haben viel Ahnung davon, was es alles gibt in der Welt. Es ist irgendwie ein Dilemma: gab es früher das Ideal des Universalgelehrten, also von einem Menschen, der von allen wesentlichen Wissenschaftszweigen ganz viel Ahnung hat, so sind heute eher die "Experten" am Ruder, Menschen, die wirklich Ahnung haben von dem, was sie tun oder lehren. Aber eben nur davon. Natürlich verstellt eine solche Spezifizierung den Blick auf´s Ganze. Aber welches Ganze eigentlich?
Würde ich das Angebot an tagesaktuellen Nachrichten, dass mir zum Konsum angeboten wird, wahrnehmen, würde ich a) nicht fertig, b) überschnappen.
Würde ich versuchen, Versäumtes und Aufgeschobenes aufzuarbeiten, würde ich a) wieder überschnappen und käme mir b) manches schon wieder vollkommen überholt vor. Aber selbst wenn ich versuchen wollte, nur die für meine Umwelt und mich wesentlichen Neuigkeiten zu erfahren und irgendwie zu bewerten, wäre ein Großteil des Tages vorüber, bevor ich überhaupt dazu käme, diese Neuigkeiten auch tatsächlich für meinen Alltag zu nutzen, denn von meinem Alltag bliebe wahrscheinlich grade mal so viel Zeit über, um Nahrung aufzunehmen, ordentlich Zähne zu putzen und zu schlafen. Also wird gesiebt. Zum Beispiel siebt das Fernsehen aus, was für mich wichtig ist. Und hier fängt das Problem an. Denn wer entscheidet denn, was für mich wichtig ist?
Auf jeden Fall nicht nur ich selbst. Wenn ich nun jeden Tag damit beackert werde, dass z. B. georgische Einbrecherbanden ihr Unwesen treiben und wenn dann ebendiese Georgier eingesperrt werden, die Einbrüche aber deshalb nicht weniger werden, dann fühle ich mich genau so unsicher wie vorher, allerdings a) mit einem speziell schlechten Gefühl manchen Georgiern gegenüber und b) einem gesteigerten Misstrauen jetzt z,B. Rumänen und Moldawiern gegenüber, die nunmehr verdächtigt werden, uns unseren "wohl verdienten" Besitz zu stehlen.
Eine durchwachsene Bilanz. Dann kann ich noch mit Überwachungskameras und Türschlössern etc. ein Gefühl von mehr Sicherheit gerieren, aber im Grunde habe ich nur eines: meinen "wohl verdienten" Besitz statt mit Einbrechern mit der Sicherheitsindustrie geteilt. Und etwas ist ja wohl sicher: Menschen, die ganz generell verunsichert sind, kann man leichter lenken.
Und wir sind - wie es scheint - umzingelt von Gefahren: Wirtschaftskrise, Grippewelle, Einbrecher und einer uns dank unserer kulturellen Prägung permanent begleitenden Gefahr, nämlich dass unser Verhalten dem lieben Gott nicht gefällt, dessen Schiedsspruch "ab in die Hölle" jeden Bankrott, jeden noch so schlimmen Grippevirus und jeden brutalen Raubüberfall in Sachen Grausamkeit und Erbarmungslosigkeit in den Schatten stellt. Und alle – Wirtschaft/Grippe/Gott - beobachten uns und wollen uns ans Leder.
Also gehen wir ständig geduckt durch´s Leben und hoffen, dass es die anderen erwischt.
Aber je mehr man sich duckt, desto weniger sieht man natürlich. Oder anders gesagt, man wird blöder. Ich habe durchaus das Gefühl, dass das nicht ganz unbeabsichtigt ist von "den Mächtigen". Und wer wiederum sind die Mächtigen? Wer ist mächtig?
Jene, die die Entscheidungen in unserer staatlichen Gemeinschaft treffen. Also der Souverän. Also das Volk? Wir? Sie? Ich? Vielleicht ist es nur meine persönliche Wahrnehmung, aber ich habe nicht das Gefühl, Teil jener Entscheidungsprozesse zu sein, die meinen Alltag und den der mir wichtigen Menschen bestimmen. Das sind für mich immer noch eher Religionen und politische Interessensvertretungen (in denen ich mich zumindest ansatzweise durchaus auch wiederfinden könnte), aber vor allem scheinen das heute jene zu sein, die Politik und Glauben mit dem schönen Begriff "Unternehmensphilosophie" miteinander verbinden: die großen Konzerne dieser Welt, die sich Religionen und politische Interessensvertretungen als Vorfeldorganisationen halten, und gemeinsam predigen sie uns ununterbrochen von Bedrohung, von Gefahr und von "berechtigter Angst", die wir haben sollen.
Letztlich kann ja auch eines der größten Wirtschaftsimperien der Welt, die Mafia, in ihrem unternehmerischen Ansatz nicht irren. Da kommt ja auch keiner in ein Geschäft spaziert und erklärt dem Besitzer "Wow! Gut machst du das! Du brauchst echt keine Hilfe von uns. Mach nur weiter so!" Und verschwindet dann wieder. So arbeitet die Mafia nicht – und so arbeiten auch Kirche, Politik und Konzerne nicht. Da hört man eher:
"Naja – Du musst Dich natürlich nicht impfen lassen, und Du musst Deine Zähne natürlich nicht täglich mit dieser Zahncreme putzen, und Du musst natürlich nicht das Sicherheitspaket dieses Wagens dazukaufen, und Du musst natürlich nicht eine Alarmanlage installieren, und Du musst natürlich nicht ins Fitnesscenter gehen und die bunten Pillen zur Dir nehmen. "Naja – Du musst natürlich nicht in die Kirche kommen, und die Kirchensteuer musst Du auch nicht zahlen, aber – das schaut dann alles gar nicht gut aus für Dich."
Und die Darstellung der Hölle in sakralen Bauten des Mittelalters ist einmal mehr einmal weniger wissenschaftlich unterfutterten säkularen Studien und Berichten gewichen, mit denen uns das Fürchten gelehrt wird, unsere Ängste geschürt werden, die uns unsere Stimmen abgeben lassen, d.h. sprachlos machen und so den Obrigkeiten ihre Macht erhalten.
Und also
- fürchten wir uns tatsächlich vor ein paar Asylanten,
- haben wir tatsächlich Schiss, dass uns das Geld ausgeht (wohin eigentlich? Und warum verdienen die, die Schuld haben an der Misere, heute mehr als vor der Krise?),
- wird immer noch kleinen Kindern "Gott-sieht-alles" eingetrichtert, anstatt sie mit Argumenten und Liebe zu überzeugen,
- kaufen wir weiterhin Medikamente und Wässerchen und Energiesteine, in der Hoffnung, die machen uns gesünder, und nicht zuletzt
- gibt es immer noch Tageshoroskope, wobei deren Verfasser wohl die harmlosesten Stümper sind in der Reihe all jener, die auf Basis unserer Ängste ihre Existenz begründen.
Ich glaube, dass das Spiel mit unseren Ängsten ein uraltes ist.
Und es ist einfach ein gutes Geschäft.
Aber wer sollte uns die Angst nehmen?
Der Satz "Fürchte dich nicht!" führte jenen, der ihn ausgesprochen hat, ans Kreuz. Andere, die diesem Grundsatz oder ähnlichen Prinzipien folgten, fanden meist auch einen gewaltsamen Tod. Nicht sehr motivierend, den Angstmachern ernsthaft entgegen zu treten. Dazu fürchte ich mich dann zum Beispiel doch zu sehr davor, die Sicherheit meiner konformen, konsumierenden Existenz zu riskieren. Da pflege ich doch lieber weiter einige völlig irrationale Ängste, als dass ich das Risiko eingehe, furchtlos frühzeitig meine Existenz zu beenden.
Aber wie schwach müssen eigentlich all jene sein, für die es ein zu großes Risiko ist, wenn sich Menschen sicher fühlen. Und warum akzeptieren wir diese Schwächlinge: als Prediger, Präsidenten und Verkäufer.
Warum sagen wir nicht: "Liebe Kirche, wenn Du Dich vor der Hölle fürchtest, warum öffnest Du nicht Deinen ganzen Besitz, Deine Klöster, Kirchen, Waldgrundstücke, Industriebetriebe für die Armen und Verfolgten dieser Welt, und dann hättest Du das Problem mit der Hölle nicht – und liebe Kirche, du hättest dann auch ganz bestimmt Wichtigeres zu tun, als uns mit der Hölle und diesem ganzen Schwachsinn zu drohen."
Und warum sagen wir nicht: "Liebe Politiker, wenn Ihr unsere Ängste teilt, dann tretet ab. Wir brauchen niemand, der unsere Ängste teilt, sondern jemanden, der sie überwindet."
Und warum sagen wir nicht: "Lieber Herr Verkäufer, wir brauchen keinen mit Sicherheit besten Fernseher und kein mit Sicherheit bestes Handy, so wie wir auch um 18.00 Uhr kein mit Sicherheit frisch gebackenes Brot und im Februar mit Sicherheit frisch geerntete Erdbeeren brauchen, und wenn sie meinen, ihre Sicherheit würde von schwulen, drogensüchtigen, georgisch-rumänischen Einbrechern bedroht, dann installieren sie sich doch ihre Alarmanlagen in ihrem eigenen Eingangsbereich, aber lassen sie mich damit in Ruhe."
Wenn unser Vor-, Vor-, Vor-, Vor-, Vorfahre in seiner Höhle auf die Idee gekommen wäre, aus Gründen der Sicherheit mal auf Vorrat statt einem Mammut 100 Mammuts zu jagen, um sie dann in seine Höhle zu hängen, hätte er möglicherweise riskiert, auf Kosten einer vermeintlichen Sicherheit die Geschichte der Menschheit frühzeitig zu beenden, denn
- er und seine Lieben wären entweder an vergammeltem Fleisch gestorben,
- oder er und seine Lieben hätten nach dem Verzehr von 100 Mammuts Jahre später nicht mehr gewusst, wie man Mammut jagt, und so wären sie alle verhungert,
- oder er wäre von dieser Jagd nicht mehr zurückgekommen, weil das 99. Mammut doch stärker und schlauer war als er, und so hätte seine Frau zwar mit 98 toten Mammuts eine üppige Witwenrente, aber keinen Vater ihrer Kinder mehr gehabt.
Zum Glück lag es unserem Ur-, Ur-, Ur-, Ur-, Uropa fern, Sicherheit im Dahinmetzeln von Mammuts zu suchen.
Vielleicht sollte man an einem Tag wie heute beginnen, all jenen, die meinen, uns von Kanzeln und Rednerpulten aus das Fürchten lehren zu müssen, zu antworten: "ICH FÜRCHTE MICH NICHT!"
Und dann wird sich herausstellen, wer von all denen, die heute meinen, stellvertretend für uns handeln und denken zu dürfen, noch übrig bleibt. Wessen Macht nicht auf unserer Angst, sondern auf ihrer Kompetenz beruht.
Aber wer von uns will schon riskieren, alle Sicherheitsangebote – und sein sie noch so abstrus wie Grippeimpfung, Grenzwanderungen junger Wehrpflichtiger oder Grandawasser – zu negieren? Das ist sicher eine Utopie.
Aber man könnte es doch einmal probieren. Im Stillen. Als Mediationsübung alleine oder mit dem Partner gemeinsam oder vielleicht sogar in kleinen Gruppen, oder vielleicht sogar hier im Saal. Man muss ja nicht schreien. Man muss es sich nur leise aber bestimmt vorsagen: Ich fürchte mich nicht.
ICH FÜRCHTE MICH NICHT.
ICH FÜRCHTE MICH NICHT!
…
Symposion Dürnstein: "Risiko Sicherheit", 14. bis 16. Februar, Stift Dürnstein, Dürnstein
http://www.kultur-melk.at/symposion-duernstein