)
Von der Türkei sind vor 2007 nicht mehr viele Reformen zu erwarten. | Istanbul. (apa) Die Luft wird dünner für den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Seit dem Wahlsieg seiner Regierungspartei AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) im November 2002 von innen- und außenpolitischen Erfolgen verwöhnt, muss der Premier derzeit mit einer Reihe von Rückschlägen kämpfen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 18 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Erdogans Finanzminister Kemal Unakitan soll so tief in Korruptionsaffären verwickelt sein, dass inzwischen selbst seine eigenen Parteifreunde den Rücktritt des Ministers fordern. Erdogans religiöse Wähler sind enttäuscht, weil das Kopftuchverbot immer noch nicht gefallen ist, in der Europapolitik geht auch nichts so recht voran. Im kommenden Jahr stehen zudem Parlaments- und Präsidentenwahlen an. Große Lust auf neue Reformprojekte hat in Ankara deshalb niemand.
In den ersten Jahren der Erdogan-Regierung jagte ein Reformpaket das andere: mehr Meinungsfreiheit, weniger Machtbefugnisse für die Militärs, mehr Rechte für die Kurden. Gleichzeitig wurde mit der Sanierung der zerrütteten Staatsfinanzen begonnen. Die Todesstrafe ist abgeschafft: Ab 1. Juni darf auch in Kriegszeiten niemand mehr zum Tode verurteilt werden.
Inzwischen scheint die Regierung jedoch reformlahmer. Die Bekämpfung der Folter bleibt stecken, die Arbeitslosigkeit verharrt trotz rapiden Wirtschaftsaufschwungs bei zehn Prozent. Und jetzt soll auch noch Minister Unakitan bei Privatisierungen gemauschelt und illegale Bauprojekte betrieben haben.
In der Partei rumort es
Noch muss Erdogan nicht um die Macht fürchten. In Umfragen liegt die AKP nach wie vor weit vor allen anderen Parteien. Die Türken würden sie heute wahrscheinlich wieder an die Macht wählen, wenn auch eher aus Mangel an Alternativen. Trotzdem wird Erdogan offensichtlich nervös. Nachdem die Vorwürfe gegen Unakitan in der Öffentlichkeit immer stärker wurden, gab der Premier der Presse die Schuld am wachsenden Skandal und warf den Medien vor, sie stünden im Sold regierungsfeindlicher Kräfte. Beweise blieb er schuldig. Der Grund für Erdogans Dünnhäutigkeit liegt darin, dass es in seiner eigenen Partei inzwischen heftiger rumort als in der Bevölkerung. Die AKP bündelt sehr unterschiedliche Kräfte. Der islamistische Flügel unterstützte Erdogans Europapolitik zwar lange Zeit, weil er sich von Europa Erleichterungen etwa in der Kopftuchfrage versprach. Spätestens seit der Bestätigung des Kopftuchverbots durch das Straßburger Menschenrechtsgericht im November sind diese Hoffnungen aber zerstoben.
Der rechte Flügel der AKP steht Europa ohnehin skeptisch gegenüber. Nun verfestigt sich der Eindruck, dass die EU an die Türkei immer neue Forderungen stellt. Das zeigt sich etwa am Zypern-Problem: Hier liegt der Schwarze Peter nach türkischer Auffassung ganz klar bei den griechischen Zyprioten, weil sie beim Referendum 2004 einen UNO-Plan zur Wiedervereinigung der Insel ablehnten - und doch verlangt die EU von der Türkei, sie solle bis Ende des Jahres ihre Häfen für griechisch-zypriotische Güter öffnen.
Die Aussicht auf das Wahljahr 2007 wird die Kompromissbereitschaft in Ankara nicht steigern. Besonders die Präsidentenwahl ist für die Türkei von immenser Bedeutung, denn sie dürfte zu einem Machtkampf zwischen dem religiös-konservativen Lager Erdogans und der kemalistischen Elite werden. An Europa denkt da niemand.