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In letzter Zeit stehen all jenen Österreichern, welche ihr Land auch international respektiert sehen wollen, neue Irritationen ins Haus. Dabei steht die österreichische Politik, gemessen an den Wirtschaftsdaten, gar nicht so schlecht da. Aber die Irritation entsteht durch die immer neuen Enthüllungen über das Ausmaß der Korruption in der österreichischen Politik und durch die Reaktion eines Teils der Bevölkerung darauf.
Der Ruf nach Aufklärung ist zwar allgegenwärtig, aber es gibt in beiden gesellschaftlichen Lagern Österreicher, welche der Ansicht sind, rückhaltlose Aufklärung oder auch nur das Unterbinden der Versuche, alles unter den Teppich zu kehren, schade dem Land mehr als die Korruption selbst. Reflexartig hört man "Die Anderen tun es doch auch" oder "So war es doch immer", verbunden mit dem durchklingenden Wunsch nach einer Autorität, welche imstande wäre, diesen Spuk, den ja auch sie nicht bestellt hätten, zu unterbinden.
Ähnlich verhärtete Stimmungen sind auch unter den glühenden Verteidigern des Gymnasiums anzutreffen, die jede Reform ablehnen, weil sie in dieser Schulform ein Bollwerk zur Stützung abendländischer Werte sehen, das in Gefahr geraten ist.
Doch der Wunsch nach einer empirischen Prüfung aller Behauptungen über die Realität ist ein unverzichtbares Erbe des Zeitalters der Aufklärung, die es in Österreich besonders in ihrer durch die Naturwissenschaften geprägten Form auch heute nicht leicht hat - weil die Forderung nach empirischer Prüfbarkeit die Tendenz zur Korrosion überkommener Autoritäten mit sich bringt.
Aber die Bewahrer überkommener Strukturen sind sich nicht bewusst, welche Hypothek es für junge, auch in Naturwissenschaften exzellente Österreicher bedeutet, im internationalen Wettbewerb auf der Suche nach entsprechenden Forschungsplätzen mit dem Geruch antreten zu müssen, aus einem Land zu kommen, das in Bezug auf die Toleranz von Korruption und auch bei der Einschätzung der heutigen Naturwissenschaften zu den rückständigsten in Europa gehört.
Politisch wache junge Österreicher können daher kaum etwas anderes tun, als sich von der - unterschiedlichen Motiven entspringenden - österreichischen Nabelschau zu lösen und sich von den Ansichten und Bewertungen vieler ihrer Mitbürger zu distanzieren. Das gilt im Besonderen auch für jene einheimischen politischen Gruppierungen, die noch immer der Versuchung ausgesetzt sind, an christlichen Stammtischen mit der Beschwörung einer Bedrohung durch den Islam zu punkten.
Ein Blick in die USA zeigt, dass dort die Konservativen mit der Grand Old Party (den Republikanern) nicht ganz unähnliche Pro-bleme haben wie zur Zeit die österreichische Volkspartei. Nur dass man sich in der mächtigsten Nation der Welt lediglich ein gewisses Ausmaß an Lähmung durch Nabelschau leistet.
Was kritische Blicke darüber hinaus zutage fördern, könnte sogar einigen gemäßigt konservativen Österreichern gefallen, welche vermuten, dass das politische Schauspiel der letzten Monate, vor allem der Versuch einiger Hauptakteure, alle Fragen, wegzugrinsen, nur den extremen Rechten helfen würde.
Offen für neue Fakten
Dabei kann gerade jetzt ein unbefangener Blick über die Grenzen hinweg neue Entwicklungen entdecken helfen - und das in einem Bereich, der von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet bleibt: In den letzten Jahrzehnten haben Frauen auf der ganzen Welt ihr Fruchtbarkeitsverhalten geändert - und das trifft besonders auf muslimische Frauen zu.
In den USA ist es zwei konservativen Meinungsmachern, Martin Walker und David Brooks, aufgestoßen, dass das Bild der Situation auf der Welt geschäftsstörend weit von der Realität wegzudriften beginnt. Sie haben daher in einigen viel gelesenen Artikeln darauf aufmerksam gemacht, dass einige ihrer Kollegen immer noch Ansichten verbreiten, denen in der Realität nichts mehr entspricht. Das betrifft vor allem auch die Sicht Europas, wie sie einige Talkshow-Experten verkaufen: Europa - sind das nicht die Staaten, die von ihrer südlichen Grenze her von muslimischen Immigranten überschwemmt werden, während im Land geborene Einheimische immer seltener werden? Martin Walker, Direktor von A.T. Kearneys Global Business Policy Council - einer renommierten amerikanischen Management-Beratungsfirma - merkt dazu an: "leider spielen weder die Immigranten noch die Einheimischen diese ihnen zugewiesenen Rollen".
Sowohl Walker als auch der "New York Times"-Kolumnist David Brooks beziehen sich dabei auf Daten, die Nicholas Eberstadt und Apoorva Shah in einer aufwendigen kritischen Sichtung der dazu nur lückenhaft vorhandenen Daten gesammelt und als Arbeitsbericht Nummer 7 der "American Enterprise Institute Working Papers on Development Policy" im December 2011 veröffentlicht haben.
Eberstadt und Apoorva Shah schreiben einleitend, es gäbe eine weit verbreitete Vorstellung, nach der muslimische Gesellschaften dabei seien, den Weg der demographischen und familiären Veränderungen einzuschlagen, welche die Populationsprofile in Europa, Nordamerika und anderen "weiter entwickelten Gebieten" (wie die UN sie nennt), verändert haben. In der Realität ist jedoch die Fruchtbarkeit in den letzten Jahren gerade auch in muslimischen Gesellschaften dramatisch gesunken.
Eine kritische Sichtung der verfügbaren plausiblen Daten ergab, dass 2005 rund 1,42 Milliarden (und damit etwa 22 Prozent der Weltbevölkerung) aus gläubigen Muslims bestanden, von denen 1,3 Milliarden in Ländern mit einer Muslim-Mehrheit lebten.
Das hat sich seither geändert. Eine spätere Abschätzung aus anderer Quelle ergab 2009 für die weltweiten islamischen Gemeinden 1,57 Milliarden Menschen, und damit 23 Prozent der jetzt lebenden Weltbevölkerung, wovon 1,25 Milliarden in Ländern mit muslimischer Mehrheit angesiedelt sind. Etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung ist somit heute muslimischen Glaubens. Der Anteil der Muslime, die in den "entwickelteren" Regionen der Erde leben, liegt jedoch bei nur etwas über drei Prozent.
Die Änderung dieser Daten geht auf die mittlerweile ebenfalls geänderte Größe der Weltbevölkerung, Wanderungsbewegungen und eine weltweite Veränderung im Fruchtbarkeitsverhalten der Frauen zurück. Fast die Hälfte der Erdbevölkerung lebt heute in Ländern, in denen die Fruchtbarkeitsrate bei oder sogar unter dem Niveau von 2,1 lebend geborenen Kindern pro 1000 Frauen im gebärfähigen Alter liegt.
Die demographische Entwicklung einer Population hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab, deren Veränderung mit der Zeit oft nur mehr oder minder plausibel abgeschätzt werden kann: von der gegenwärtigen Altersstruktur der Bevölkerung, der Geburtenrate, der Mortalität (Sterberate, Lebenserwartung) und dem Ausmaß der Ein- und Auswanderung. Alle diese Größen hängen von einer großen Zahl sozialer und politischer Einflussgrößen und deren vermuteter zukünftiger Entwicklung ab. Langfristig hat die Geburtenrate den größten Einfluss.
Die große Mehrheit der Muslime lebt heute in Ländern mit muslimischer Majorität - zu 73 Prozent, wie die "World Christian Database" meint, und fast 80 Prozent nach einer Studie des amerikanischen Pew Forum, wo man eine Liste mit 49 Ländern und Territorien in Asien, Afrika und Europa mit einer Muslim-Mehrheit findet. Etwa 160 Millionen Muslime leben in Indien, wo sie allerdings nur eine große Minorität bilden. Über 60 Prozent der gläubigen Muslime leben in nur acht Ländern: in Indonesien, Pakistan, Indien, Bangladesch, Ägypten, Nigeria, dem Iran und der Türkei.
Kultureller Wandel
Wenn man sich mit Hilfe der Bevölkerungsexperten der Vereinten Nationen die Trends in diesen Ländern ansieht, entdeckt man, dass die Fruchtbarkeitsraten mit einer in der Populationsgeschichte bisher nie beobachteten Geschwindigkeit gesunken sind - Zeichen für einen schnellen kulturellen Wandel in muslimischen Populationen, die weithin noch als besonders wandlungsresistent angesehen wurden.
Die heute im Norden und Westen Europas wieder ansteigenden Geburtenraten gehen daher nur zum Teil auf immigrierte muslimische Mütter zurück. In den Niederlanden ist die Geburtenrate von in Marokko geborenen Frauen in den Jahren von 1990 bis 2005 von 4,9 auf 2,9 gefallen, diejenige von Türkinnen von 3,2 auf 1,9. In Deutschland hatten Türkinnen 1990 im Durchschnitt zwei Kinder mehr als eine vergleichbare Population von deutschen Frauen, 1996 betrug der Unterschied nur mehr ein Kind, und mittlerweile ist auch diese Differenz halbiert.
Unter den arabischen Territorien haben nur mehr Jemen und die Gebiete der Palästinenser hohe Geburtenraten. In den arabischen Emiraten, Bahrein und im Libanon liegen sie mittlerweile in der Nähe der niedrigen europäischen Werte, und in der Türkei ist der Trend ähnlich. Man vermutet, dass Pakistan 2050 die Geburtenziffer erreichen wird, die gerade dazu ausreicht, die Verstorbenen zu ersetzen. Im Iran liegt die Geburtenrate nach einem Abfall von 70 Prozent in der Nähe der Geburtenrate von Neuengland, welche die niedrigste in den USA ist.
David Brooks scheut nicht davor zurück, das 20. Jahrhundert als das Jahrhundert einer beängstigenden Bevölkerungsexplosion zu nennen, das jetzt einem Jahrhundert einer Fruchtbarkeitsimplosion gewichen sei.
Es gibt immer noch Regionen explodierenden Bevölkerungswachstums, aber die Weltbevölkerung wächst nun signifikant langsamer - wodurch allerdings überalterte Bevölkerungen mit schweren Problemen im Verhältnis der Zahl der erwerbstätigen Menschen zur Zahl der Alten konfrontiert werden.
Peter Markl unterrichtete an der Universität Wien Analytische Chemie und Methodik der Naturwissenschaften. Er ist Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung und Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach.
Literatur:Nicholas Eberstadt, Apoorva Shah: Fertility Decline in the Muslim World: A veritable sea change, Still curiously unnoticed. The American enterprise Institute Working papers on development policy Number 7, December 2011.Martin Walker: The World’s New Numbers. Wilson Quaterly, Spring 2009.David Brook: The Fertility implosion. "New York Times", 13.März 2012