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Die Macht der Fäuste

Von Klaus Heidegger

Gastkommentare
Klaus Heidegger ist Vorsitzender der Katholischen Aktion der Diözese Innsbruck, Religionslehrer und in Friedensorganisationen tätig. Zu Formen des gewaltfreien Widerstands hat er längere Zeit mit dem Friedensforscher Gene Sharp an der Harvard University gearbeitet (www.klaus-heidegger.at).
© Katholische Aktion Tirol

Kriegspolitik im Stil eines Boxkampfes.


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Auf meinem Weg zur Schule fahre ich an jenem Ort vorbei, wo ein Jahrhundert lang im Riesenrundgemälde die legendäre dritte Berg-Isel-Schlacht mit den Tiroler Heroen Andreas Hofer und Josef Speckbacher ins Bild gebracht worden ist. Heldenhaft wurde gekämpft. Mann gegen Mann. Fahnen wurden geschwungen. Säbel wurden erhoben. Blut spritzte im Hagel von Kugeln. Selbst Sensen und Sicheln dienten zum Kämpfen. Tiroler gegen die Truppen Napoleons. Geistliche gaben ihren Segen dazu, und ein Kapuzinerpater stürmte mit dem Kreuz voran.

Was erleben meine Schülerinnen und Schüler heute? Sie sehen die Kriegsbilder auf TikTok und die damit verknüpfte Kriegspropaganda. Sie hören in den Nachrichten, es gelte mit allen Mitteln, Wladimir Putin "in die Knie zu zwingen". Sie sind betroffen von den Gräueln des Krieges so nahe unserer Heimat. Sie wachsen zugleich auf in der Sphäre der Kriegslogik, wo angeblich nur Waffen helfen, um nicht unterzugehen.

Um nicht gleich von Beginn an als Putin-Versteher punziert zu werden: Sein Krieg gegen die Ukraine ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg! Es gibt keine Rechtfertigung für diese Invasion. Ich will hier nicht auf die Ursachen und Hintergründe dieses Krieges eingehen. Genug wurde darüber seit Jahren analysiert: über die versäumte Chance für die Ukraine, einen erklärt neutralen Weg zu gehen als ein Land, das eine historische Chance gehabt hätte, die Brücke zwischen Ost und West zu sein; über die Nato-Osterweiterung, die von Russland als Bedrohung wahrgenommen wird; über die nationalistischen Kräfte in der Ukraine, die letztlich auch den Krieg befeuert haben. Vor zwei Jahrzehnten schon schrieb ich gemeinsam mit Peter Steyrer ein Buch über die Nato mit der zentralen These, dass deren Osterweiterung die Welt an den Rand eines Krieges führen würde.

Der Krieg in der Ukraine stellt eine Zäsur dar. Vor 30 Jahren, als durch den zivilen Widerstand der Bevölkerungen in den osteuropäischen Ländern das sowjetische Imperium implodierte, als ein Ende des Kalten Krieges in Aussicht war, als eine weltweite Friedensbewegung die Abschaffung aller Atomwaffen forderte und in einigen Ländern wie Deutschland, Österreich oder der Schweiz überhaupt Initiativen zur Abschaffung der Armeen aktiv waren, als man Konzepte einer sozialen Verteidigung als Alternative zum Militär propagierte, war ein Friede ohne Militärpotenziale in greifbarer Nähe.

Seit den Angriffen auf die Ukraine hat sich die Welt verändert. Alle Nato-Staaten planen massive Aufrüstungsschritte. In neutralen oder blockfreien Ländern wie Schweden, Finnland oder Österreich wird nun mehr als je zuvor offen über eine Mitgliedschaft im Militärpakt Nato nachgedacht. Das heimische Militär nutzt die Stimmung im Land, damit sein Etat kräftig erhöht wird, und stellt eine neuerliche Einberufung von Wehrpflichtigen zu Milizübungen in den Raum.

Kaum zu ertragende Bilder

Die Bilder von zerbombten Wohnhäusern, von Abertausenden in Kellern, von Raketeneinschüssen und Panzerkolonnen, von schreienden, weinenden, flüchtenden Menschen - sie sind kaum zu ertragen. Seit drei Wochen überbieten einander der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko in martialischen Durchhalteparolen. Beide werden sowohl in der eigenen Bevölkerung wie auch in den westlichen Staaten als Helden gesehen - und eben dieses Heldentum erwarten sie sich von ihren Staatsbürgern. Angesichts der russischen Attacke gelten nun Werte wie (militärische) Stärke, Ehre, Kampfbereitschaft und Nationalismus.

Der ukrainische Staatspräsident fordert seit Beginn des Krieges mit erhobener Faust vom Westen militärische Hilfestellungen wie Waffenlieferungen oder die Errichtung einer Flugverbotszone, die das Risiko eines großen Krieges zwischen Ost und West mit sich bringen. Der Bürgermeister von Kiew agiert wie zu seiner Zeit als Boxweltmeister im Schwergewicht: "Wenn du kämpfst, musst du als Sieger vom Platz gehen, unbedingt, um jeden Preis!" Er beschwört seine Landsleute: "Wir werden Kiew verteidigen, und wenn wir alle draufgehen." Und er betont: "Es ist eine Ehre, für dieses Land zu sterben!"

Kriegsrecht, allgemeine Einberufung, Volksbewaffnung. Man sagt: Man müsse Putin besiegen. Man müsse das russische Militär mit allen Mitteln bekämpfen. Man müsse deswegen auch die Kollateralschäden in Kauf nehmen - die getöteten Menschen in Plastiksäcken auf beiden Seiten, die verstümmelten Körper, die brennenden Häuser, die Hunderttausenden auf der Flucht. Man müsse deswegen auch bis an den Rand eines Dritten Weltkrieges gehen.

Muss man? Sind wir Zuseher in einem Ring, wo es heißt: Putin gegen Selenskyi? Sieg oder Niederlage? Haben die tausenden diplomatischen und nicht-militärischen Interventionen schon ausgedient, und bleibt wirklich nur noch die Sprache militärischer Gewalt, Faust gegen Faust?

Es ist nie zu spät für Diplomatie

Feuerpause! Waffenruhe! Dies bleibt als erste Forderung. Der Granatennebel vernebelt das Denkvermögen. Wenn die Leichensärge russischer Soldaten in die Heimat gebracht werden, wird dies nur die Wut Putins steigern. Die zweite Forderung lautet: Es ist nie zu spät für Diplomatie. Ein Streit von zwei Größen braucht Mediatoren. Die dritte Option setzt darauf, dass eine Okkupation besser ohne Gewalt mit zivilen Mitteln "bekämpft" werden kann, wenn diese strategisch eingesetzt werden. Das Diktum von Mahatma Gandhi, dass man "ein Land mit Gewalt erobern, aber nicht mit Gewalt halten kann", hat seine bleibende Berechtigung, genauso wie die Worte von Martin Luther King gerade jetzt mit Blick auf die Ukraine ihre Wahrheit zeigen: "An eye for an eye makes the whole world blind."

Ein großes und reiches Land wie die Ukraine könnte sich mit dem ganzen Instrumentarium des zivilen Widerstands gegen eine russische Fremdbesetzung wehren. Die Bevölkerung von Kiew hat bereits in der Orangen Revolution 2004 eindrucksvoll gezeigt, dass gewaltfreie Mittel stärker sein können als die Gewalt von Regierenden, dass die Wehrhaftigkeit nicht gleichzusetzen ist mit Maschinengewehren oder Molotowcocktails. Dieser gewaltfreie Volksaufstand ist wie ein Lehrstück einer Sozialen Verteidigung gegen ein repressives Regime. Sie war erfolgreich.

Nationalistisches Pathos kann auch leicht zu unseligem Märtyrertum kippen. Durchhalteparolen für die ukrainische Armee und massive Waffenlieferungen in das Kriegsland sind jedenfalls ein Weg, der die militärische Eskalation nur noch mehr nach oben schraubt, der zu noch mehr Leid, noch mehr Zerstörung und letztlich zu einem Dritten Weltkrieg führen könnte. Unsere Welt ist komplexer als ein Boxring. Es ist höchste Zeit, diesen zu verlassen.