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Die Macht der Wahlmänner

Von Robert Tanner

Politik

New York - Alle vier Jahre setzen sie den Schlusspunkt unter die US-Präsidentenwahl: 538 Wahlfrauen und -männer, die normalerweise lediglich formell das Ergebnis der direkten Abstimmung besiegeln. Sie werden damit von ihren Parteien, je nachdem, wer die Mehrheit in ihrem Staat gewann, für aktives Engagement belohnt. Sie sind aber nicht verpflichtet, dem Ergebnis entsprechend abzustimmen.


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Und deswegen rückt das in der Verfassung von 1787 vorgeschriebene Gremium angesichts des Kopf-an-Kopf-Rennens der Kandidaten George W. Bush und Al Gore wie selten zuvor in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses.

Für den Fall, dass Bush Florida gewinnt, können drei anders entscheidende Wahlmänner und -frauen den Ausgang der Wahl wieder auf den Kopf stellen. Zwar wird in der Hälfte der Staaten gesetzlich vorgeschrieben, dass sie entsprechend dem Wählerwillen abzustimmen haben. Allerdings ist umstritten, ob diese Verpflichtungen juristisch tatsächlich durchsetzbar sind. Die Verfassung selbst legt die Wahlmänner auf keinen Kandidaten fest.

Die Nominierung für das Wahlgremium erfolgt in der Regel als Belohnung für aktive Parteiarbeit. Die Auserwählten haben an den Parteitagen auf Bundes-, Staats- und Kommunalebene teilgenommen, Spenden gesammelt, Telefondienste besetzt, um Wahlberechtigte an die Stimmabgabe zu erinnern und andere Basisarbeit geleistet. Niemand von ihnen hat bisher öffentlich erklärt, anders abzustimmen, als von ihnen erwartet wird. Wenn beispielsweise Bush Texas gewinnt, stellen die Republikaner die Wahlmänner und Gores Demokraten bleiben zu Hause.

Nun sind sie aber plötzlich von einer Randnotiz zum Aufmacherthema der Medien geworden. Da ihre Namen öffentlich bekannt sind, stehen ihre Telefone kaum noch still. "Ich bin überwältigt", erklärt Jo Slaughter, eine Bush verpflichtete Wahlfrau aus Charleston, West Virginia. Kristie Mann, eine Gore verpflichtete Kollegin aus Kalifornien, seufzt: "Wir hatten keinen Schimmer, dass es so ausgehen wird." Don Wilcox, Gore-Wahlmann aus Kalifornien, ergänzt: "Es war eine wirklich wilde Erfahrung, um es zurückhaltend auszudrücken. Ich habe nie gedacht, dass es was anderes als eine großartige, zeremonielle Lektion in Bürgerrechten sein wird."

Das Gremium ist keine Institution; die 538 Mitglieder werden nie zusammenkommen. Sie geben am 18. Dezember ihre Stimmen in der Hauptstadt ihres Staates ab. Der Kandidat, der die Mehrheit der Stimmen erhält, wird der 43. Präsident der Vereinigten Staaten.