Der Literaturwissenschafter Silvio Vietta spricht über die Philosophie Martin Heideggers und fragt sich, warum Intellektuelle immer wieder anfällig für totalitäre Ideologien sind.
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"Wiener Zeitung": Herr Vietta, demnächst erscheint ein Notizheft im Druck, das Martin Heidegger in den Jahren 1945 bis 1946 geschrieben hat. Sie sind der Besitzer dieses Heftes. Worum handelt es sich da?
Silvio Vietta: Das ist eines von Heideggers "schwarzen Heften", die Aufzeichnungen vornehmlich privaten Charakters sind, wenn auch im Sinne der Abklärung seines eigenen Denkweges in der schwierigen Zeit. Sie werden jetzt als Abschluss der Heidegger-Gesamtausgabe erscheinen.
Im Vorfeld der Veröffentlichung wurde kolportiert, in diesem Heft komme Heideggers Antisemitismus eindeutig zum Ausdruck. Halten Sie als Kenner des Materials diese Darstellung für zutreffend?
Ich bin einigermaßen irritiert über diesen Vorwurf. Antisemitismus ist ja eine dumme Ideologie, die einen Menschen allein aufgrund seiner Rassenzugehörigkeit abwertet. Und das gehört überhaupt nicht zu Heideggers Denkstil. Er war mit Juden befreundet, vor allem mit Hannah Arendt, mit der ihn ein Liebesverhältnis verbunden hat. Sie hätte sich mit ihm nach 1945 sicher nicht versöhnt, wenn er Antisemit gewesen wäre. Er hatte einen jüdischen Assistenten, dem er 1933 geholfen hat, nach England zu emigrieren, er hatte viele jüdische Schüler. Und er hat auch explizit am rassistischen Denken des Nationalsozialismus Kritik geübt.
Der Vorwurf rührt wahrscheinlich daher, dass Heidegger zum Nationalsozialismus eine sehr ambivalente Haltung eingenommen hat. Das wurde ihm nicht verziehen, und deshalb werden seine Schriften besonders streng auf NS-Anklänge untersucht.
Ja, das ist gewiss richtig.
Sie haben Martin Heidegger persönlich gekannt. Was war an ihm so faszinierend? Wenn man Fotos von ihm sieht, wirkt er nicht unbedingt charismatisch.
Nein, besonders stattlich war er nicht. Aber er hatte diese durchdringenden, intensiven Augen. Wenn er einen Raum betrat oder einen betrachtet hat, war das faszinierend. Und wenn er irgendwo sprach, zum Beispiel 1956 im Audimax in Wien, dann war der Raum voll und die Leute haben ihm gebannt zugehört. Heidegger konnte nämlich etwas, was nicht viele Philosophen können: eine Brücke schlagen zwischen der Philosophiegeschichte und der Welt, in der wir heute leben.
Die "Zeit", die über dieses "Schwarze Heft" als Erste berichtet hat, teilte unter anderem mit, dass Heidegger die Ehe Ihrer Eltern zerstört hat. Sehen Sie das auch so, oder ist das eine Meldung auf Klatschspaltenniveau?
So wie es in der "Zeit" formuliert war, ist es ein bisschen zu melodramatisch. Die Ehe meiner Eltern hatte schon vor der Bekanntschaft mit Heidegger eine große Krise; aber es ist schon wahr, dass Heidegger der auslösende Faktor dafür war, dass die beiden auseinander gingen. Meine Mutter stellte sich ganz in den Dienst der Arbeit für ihn. Sie hat seine Texte abgeschrieben, was nicht ganz einfach war, denn seine Handschrift war schwer zu lesen. Sie aber konnte das sehr gut und übernahm diese Aufgabe. Die Liebe zu Heidegger hat sie ganz eingenommen, und das hat dazu geführt, dass die Ehe meiner Eltern auseinander ging.
Haben Sie ihm das verübelt?
Nein. Ich bin sogar irgendwie dankbar, dass mir meine schwierige Jugend die Möglichkeit eröffnete, mit großen Geistern zusammenzukommen. In meinem Elternhaus waren immer interessante Leute, die ich - wenn auch noch ein bisschen aus der Froschperspektive - kennen gelernt habe. Auch Adorno gehörte dazu.
Ihr Vater war der Essayist, Romancier, Reiseschriftsteller und Dramaturg Egon Vietta. Er zählt heute nicht mehr zu den gelesenen Autoren. Aber zu seinen Lebzeiten war er in bildungsbürgerlichen Kreisen sehr bekannt. Welches seiner Bücher würden Sie heutigen Lesern empfehlen?
Also, ich finde seine Reisebücher sehr schön, "Romantische Cyrenaika" heißt eines, ein anderes "Zauberland Kreta". 1955, gegen Ende seines Lebens hat er noch ein interessantes Buch geschrieben, nämlich den Essay "Europa ist in Asien gebettet". Da geht es unter anderem um den Alexanderzug. Wie viele seiner Generation suchte mein Vater nach geistiger Erneuerung, und er fragte deshalb nach den Wurzeln Europas. Das hat ihm am Ende seines Lebens über Persien als Kulturbrücke auch den Weg nach Indien geöffnet. In der Nachkriegszeit hat er sich aber auch sehr darum bemüht, Autoren in Deutschland wieder bekannt zu machen, die von den Nazis verdrängt worden waren. Er hat sich mit dem Expressionismus beschäftigt, hat über Kafka, Trakl und Barlach geschrieben und als Dramaturg in Darmstadt dafür gesorgt, dass vergessene Stücke wieder auf die Bühne kamen.
In der NS-Zeit gehörte er zur "Inneren Emigration", d.h. er war kein Nationalsozialist, wollte aber auch kein Emigrant sein, weil das bedeutet hätte, Deutschland unwiderruflich zu verlassen. Einen Ausweg aus diesem Dilemma fand er wie andere Intellektuelle - etwa Stefan Andres, Eckart Peterich, Kasimir Edschmid - in Italien. Er schrieb Bücher über italienische Themen und war während des Zweiten Weltkriegs Herausgeber der Zeitschrift "Italien", die gewisse geistige Freiräume bot.
Ja, aber er hat auch in Deutschland gegen Hitler gekämpft. Er stand in Hamburg der "Weißen Rose" nahe, und wurde polizeilich gesucht. Eine meiner ersten Erinnerungen ist, dass die Gestapo bei uns nachts im Haus war und meine Mutter fragte, wo mein Vater sei. Das war 1944 und mein Vater war schon nach Italien geflohen.
Teilen Sie den Eindruck, dass im heutigen Rückblick die Emigration meistens als die einzig moralisch vertretbare Verhaltensweise gesehen wird, während man die "innere Emigration" mit all ihren Kompromissen und Halbherzigkeiten abwertet?
Das ist sicher so. Diese Haltung geht vor allem auf Thomas Mann zurück, der in der Nachkriegszeit als Erster sagte: Nur, wer fundamentale Opposition gegen Hitler geleistet hat, kann weiterhin akzeptiert werden. Aber er konnte von Kalifornien aus natürlich gefahrlos gegen Hitler reden, viel deutlicher, als das in Deutschland möglich war. Da musste man lavieren und vorsichtig Kritik üben. Die damaligen Leser hatten jedoch ein Sensorium für kritische Zwischentöne, das dann später zunehmend verloren ging. Ich möchte aber doch ergänzen, dass es einen Briefwechsel zwischen meinem Vater und Hermann Broch gibt, den ich ediert habe. Und in diesen Briefen bewundert Broch - ganz anders als Thomas Mann - all diejenigen, die in Deutschland geblieben sind und gegen Hitler gekämpft haben.
Kommen wir wieder auf Heidegger zurück. Wie beurteilen Sie seine Haltung in der NS-Zeit?
Also mir stellt es sich so dar, dass er sich schon vor 1933 in ein abstraktes Erneuerungspathos hineingesteigert hat. Er wollte eine Erneuerung des deutschen Geistes, war natürlich gegen den Bolschewismus und sah im Nationalsozialismus die "konservative Revolution", die er sich erhoffte. Er wurde 1933 aus dieser Haltung heraus Rektor der Universität, trat aber schon 1934 wieder zurück. Hannah Arendt und Karl Jaspers haben ihm später zugute gehalten, dass er die politische Dimension seiner Haltung nicht ganz durchschaut hätte. Aber er hat doch ab ungefähr 1936 erkannt, dass das Dritte Reich genau das Gegenteil dessen war, was er suchte. Der Nationalsozialismus hat sich ja zu einem großen Herrschafts- und Welteroberungsprojekt aufgerüstet, und hat dafür auch die Naturwissenschaften in den Dienst genommen. Das hat Heidegger immer klarer gesehen und hat das Dritte Reich als eine neuzeitliche Form von Herrschaftsdenken dann in seinen "Beiträgen zur Philosophie" außerordentlich kritisch beschrieben.
Sie sehen Heidegger also als Gegner der Nationalsozialisten.
Ja, aber im Gegensatz zu anderen Kritikern stellt Heidegger die dreizehn Jahre des Nationalsozialismus in den größeren Zeitraum jener Neuzeit, in der die Wissenschaft selbst die Grundlagen zur Herrschaft über die Natur legt. Damit stellt er den Nationalsozialismus auch in einen Zusammenhang mit dem Kolonialismus und der Unterwerfung anderer Völker. Es gibt ja auch schon lange vor 1933 einen permanenten Holocaust der Neuzeit, z. B. an den Indianern Nord- und Südamerikas. Der amerikanische Forscher David Stannard spricht vom "American Holocaust". Völkermord ist nicht Hitlers Erfindung gewesen, er hat ihn nur mit besonders grausamen Mitteln durchgeführt. Heidegger ist also der Meinung, dass die Zerstörung der Erde (oder wie er es nennt: die "Verwüstung") nicht mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten begonnen hat und auch mit ihrer Niederlage nicht zu Ende geht. Noch in den "Holzwegen" von 1950 schrieb er: "Der Angriff herrscht" - also die Aggression gegen die Natur und auch gegen andere Kulturen.
Dieser Gedanke unterscheidet sich grundsätzlich von den meisten Kritikern der NS-Zeit, die in der Regel die Aufklärung als Gegengift gegen totalitäre und autoritäre Strukturen einsetzen. Ihre Hoffnung heißt: Je mehr Aufklärung, desto weniger Unmenschlichkeit. Das klingt bei Heidegger anders. War er ein Feind der Aufklärung?
Er war der Meinung, dass das "rechnende Denken", wie er es nennt, ein Grundzug zumindest eines großen Teils der Aufklärung ist, und dass dieses Denken Ausbeutung, Unterwerfung und Zerstörung mit sich bringt. Daher auch seine Kritik an der Wissenschaft. In dem Vortrag, den er 1956 in Wien gehalten hat, spricht er über den Satz vom Grunde, also über die Überzeugung der Neuzeit, dass alles berechenbar und begründbar gemacht werden müsse. Und das ist die Voraussetzung für die europäische Herrschaft über die Welt gewesen. Dieses Denken setzt sich auch in der neuzeitlichen Technik durch. Wir haben ja eine unglaubliche Expansion unserer Technik in alle Welt, sodass der Denktypus, den Heidegger hier charakterisiert, alle anderen Kulturen an die Seite gedrängt hat und selbst weltbeherrschend geworden ist.
Das könnte ein Gedanke sein, mit dem heutige "alternative" Bewegungen mehr anzufangen wissen als die traditionellen Aufklärer. Gibt es Affinitäten zwischen Heidegger und aktuellen postkolonialen oder ökologischen Theorien?
Das, was heute "Nachhaltigkeit" genannt wird, das hat er zum Beispiel mit dem Gedanken angesprochen, dass der Mensch wieder "der Hirte des Seins" werden müsse. Insofern ist er schon ein visionärer, vorausdenkender Geist gewesen.
Eröffnet dieser visionäre Denkstil auch die Möglichkeit, dass sich philosophische Strömungen auf ihn beziehen können, die ihm selbst vermutlich fremd gewesen wären?
Das kann durchaus sein. Er hat sich ja auch immer auf die Kunst und die Literatur als eine alternative Form der Erkenntnis bezogen, und von daher ergibt sich eine Brücke zu neueren französischen Theoretikern, etwa Derrida, der auch sehr logos-kritisch ist.
Genau daraus erklärt sich jedoch umgekehrt die Heidegger-Ablehnung bei Fürsprechern der Rationalität wie Jürgen Habermas. Dessen Denken führt bestimmt nicht zu Heidegger.
Habermas hat 1967 ein kleines Buch geschrieben über "Technik und Wissenschaft als Ideologie". Da gab es noch eine gewisse Übereinstimmung. Aber später hat er die Kritik am eurozentrischen Weltbild ganz aufgegeben und nur noch Kommunikationstheorie betrieben. Damit hat er sich übrigens auch von der älteren Frankfurter Schule entfernt, denn Adornos Begriff "Verdinglichung" hat durchaus Ähnlichkeiten mit Heidegger, ebenso Adornos Faszination für die Dichtung. Aber Habermas hat diese Kulturkritik nicht mehr verstanden.
Vielleicht hat er sie auch nicht verstehen wollen. Das wäre ja aus der deutschen politischen Geschichte heraus begreiflich. Ist es nicht so, dass im Nachkriegs-Deutschland die Gleichung gilt: Nationalsozialismus ist gleich Irrationalismus, folglich muss jeder, der einen neuen Nationalsozialismus verhindern will, Rationalist sein?
Sicher ist das so, aber dem liegt eben ein zu eindimensionaler Begriff von Rationalismus zugrunde. In meinem Buch über die Geschichte der Rationalität habe ich versucht darzustellen, dass es in Deutschland eine ganz eigentümliche Machtkonstellation gegeben hat, in der sich Rationalismus und Irrationalismus verbunden haben, wodurch das schreckliche Ausmaß an Unheil erst möglich geworden ist. Um 1900 ist Deutschland Weltmeister in Sachen Rationalitätsentwicklung, also vor allem im Bereich der Naturwissenschaft und Technik. Gleichzeitig entwickeln sich aber - in Deutschland wie auch in Österreich - extrem irrationale Ideologien. Und diese Verbindung vom Irrationalismus, zum Beispiel der Rassentheorie, mit den Machtmitteln der Rationalität ist in besonderem Maß gefährlich gewesen. Insofern geht die Kritik am Irrationalismus nicht weit genug. Denn so versteht man nicht, dass Hitlers verheerendste Wirkung gerade durch den Einsatz rationaler Mittel zustande kam. Man muss die Rolle des Rationalismus in der Verwüstungsgeschichte mit sehen. Wenn Hitler nicht den sehr effizient durchorganisierten deutschen Machtapparat zur Verfügung gehabt hätte, wäre er ein pathetischer Bierstubenredner geblieben und sonst nichts.
Es sind aber nicht nur die technischen Eliten, sondern auch die Intellektuellen ins Zwielicht geraten. Schriftstellern, Geisteswissenschaftern, Künstlern wurde immer wieder der Vorwurf gemacht, sie hätten zu wenig getan, um die unheilvolle Entwicklung zu verhindern. Diese Kritik trifft auch Heidegger
.Ja, eine gewisse Schuld bleibt an ihm hängen, das finde ich auch. Sicher wäre es besser gewesen, wenn er offen Kritik geübt hätte, und man kann ihm auch den Vorwurf nicht ersparen, dass er in manchen Situationen wenig Humanität bewiesen hat.
Aber im Gegenzug muss man auch sagen, dass sich viele, die das Verhalten der Intellektuellen im Dritten Reich kritisieren, ihrerseits der totalitären kommunistischen Ideologie verschrieben haben. Also, da empfiehlt es sich, auch einmal an die eigene Pforte zu klopfen. Und wenn man das 20. Jahrhundert betrachtet, zeigt sich, dass viele Intellektuelle sehr anfällig für verschiedenste Ideologien gewesen sind.
Vor allem wohl für jene Ideologien, die Macht versprachen.
Genau, die Macht ist das Lockmittel. Ich selbst habe Achtundsechziger gesehen, die sich gleichsam in Leninpose zum neuen Diktator aufschwangen und sich in dieser Rolle gut gefielen.
Aber korrespondieren solche Maskeraden nicht mit der objektiven Machtschwäche der Intellektuellen? Weil man selbst nicht sehr stark ist, hat man es ganz gerne, wenn Gewaltmenschen wie Lenin oder Hitler hinter einem stehen?
Ja - so wird es wohl sein.
Zur Person
Silvio Vietta, geboren 1941 in Berlin, ist Literaturwissenschafter und emeritierter Professor an der Universität Hildesheim. Seine Forschungen konzentrieren sich auf deutsche Literatur, Philosophie und Europäische Kulturgeschichte.
Silvio Vietta besitzt Materialien aus dem Nachlass Martin Heideggers, da seine Eltern, der Schriftsteller Egon Vietta und vor allem dessen Frau Dorothea, geb. Feldhaus, dem Philosophen nahe standen (siehe Interview). Auch Silvio Vietta kannte Heidegger persönlich und seine wissenschaftliche Arbeit ist stark vom Denken des deutschen Philosophen geprägt.
Publikationen (Auswahl):
Heideggers Kritik am Nationalsozialismus und an der Technik. Niemeyer Verlag, Tübingen 1989.
Rationalität. Eine Weltgeschichte. Europäische Kulturgeschichte und Globalisierung. Fink Verlag, München 2012.
"Sich an den Tod heranpürschen". Hermann Broch und Egon Vietta im Briefwechsel 1933-1941. Wallstein Verlag, Göttingen 2012 (mit einer Biographie Egon Viettas).
Literatur und Rationalität. Funktionen der Literatur in der europäischen Kulturgeschichte. Fink Verlag, München (erscheint Anfang April 2014).