Zum Hauptinhalt springen

Die magische Zahl

Von Levin Wotke

Politik
Illustration: Dietmar Hollenstein

Oft wird behauptet, dass eine Gesellschaft nur eine begrenzte Zahl von Menschen aufnehmen könne. Stimmt das?


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. "Das Boot ist voll" ist wohl eine der härteren Varianten, es auszudrücken. "Wir können nicht alle aufnehmen" meint dasselbe, klingt aber sachlicher und nüchterner. Ein Grundgedanke vereint beide Sager: Irgendwo gibt es eine Höchstgrenze, bis zu der ein Land Migration aushält. Nur: Wie viel ist zu viel? Darüber gehen die Meinungen auseinander.

107.500 Flüchtlinge haben allein im Juli in der Europäischen Union Schutz und Aufnahme gesucht - dreimal mehr als noch vor einem Jahr. Für Österreich rechnet die Regierung für heuer mit rund 80.000 Flüchtlingen. Und Prognosen gehen davon aus, dass die Zuwanderung von Menschen aus den Krisengebieten der Welt auf absehbare Zeit anhalten wird.

Darüber, wie viel Migration eine Gesellschaft ohne Spannungen bewältigt, entscheiden Kultur, Wirtschaft und Sozialsystem. Die Obergrenze ist also relativ: "Die Zahlen, die mir gezeigt wurden, kommen meist aus dem Bauch heraus", meint Bernhard Perchinig. Der Forscher am International Center for Migration Policy Development (ICMPD) in Wien sagt, Daten, die diese Frage beantworten, hätte ihm noch nie jemand zeigen können.

Enge begann mit Nationalstaat

Wohl nicht zuletzt weil Migration, wie wir sie heute kennen, eine verhältnismäßig kurze Vergangenheit hat. Bis herauf ins 19. Jahrhundert war von klassischen Staatsgrenzen keine Rede. Das änderte sich mit der Entstehung der Nationalstaaten. "Erst im 19. Jahrhundert wurden diese Container mit eigener Volkswirtschaft, Politik und Kultur aufgebaut", erklärt der Grazer Soziologe Manfred Prisching. Anders als Perchinig wagt Prisching aber eine qualitative und quantitative Einschätzung: "Wenn wir eine hohe Zuwanderung aus kulturell entfernten Gegenden haben - nehmen wir an: mehr als 100.000 Personen pro Jahr -, dann ergibt das, über die Jahrzehnte gerechnet, ein kulturelles Problem."

Ganz ohne Zuwanderung droht allerdings ebenfalls ein Dilemma: "Zwei österreichische Erwachsene haben heute im Durchschnitt 1,4 Kinder, das heißt: In jeder Generation fehlt ein Drittel", erläutert Prisching. Müsste man sich also ohne Zuwanderung nur auf die Geburtenrate verlassen, würde die Bevölkerung rasch schrumpfen. Für die Finanzierbarkeit unseres Sozialstaats ein Horrorszenario. In Österreich lag die Zahl der über 65-Jährigen im Jahr
1990 noch bei 15 Prozent der Bevölkerung, 2014 waren es 18 Prozent und für 2050 prognostiziert die Statistik Austria knapp 28 Prozent. Ein gewisser Migrationsanteil ist dabei schon einkalkuliert.

Österreich erlebt nicht zum ersten Mal eine massive Wanderungsbewegung. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs sah man sich mit zwei großen Gruppen von Flüchtlingen konfrontiert: einerseits die "Displaced Persons" - vom NS-Regime zwangsrekrutierte Arbeiter, Kriegsgefangene und jüdische Überlebende der Konzentrationslager. Andererseits gab es die "Volksdeutschen", die nach dem Krieg als vermeintliche Verbündete der Deutschen aus jenen europäischen Ländern vertrieben wurden, in die die Nazis eingefallen waren.

Zunächst habe man bei beiden Gruppen "alles falsch gemacht", sagt Perchinig. Besonders die "Displaced Persons" versuchte man durch Transporte in Herkunftsländer loszuwerden. Perchinig: "Da hat man relativ klar gesagt: ‚Die wollen wir nicht.‘" Bei den Volksdeutschen schlug man aber schließlich einen anderen Weg ein. Die überwiegend aus der damaligen Tschechoslowakei stammenden etwa 350.000 Volksdeutschen hatten zu Beginn nur wenige Rechte und kaum Zugang zum Arbeitsmarkt. Da sie sich aber mit Parteien und der Kirche gut vernetzen konnten, erhielten sie Zugang zum Arbeitsmarkt; und ab 1954 konnten sie die Staatsbürgerschaft mit einer Loyalitätserklärung erwerben, in der sie versicherten, der Republik künftig als "getreue Staatsbürger" angehören zu wollen.

Frage des Bewusstseins

Staatsbürgerschaft sei damals ein Integrationsinstrument gewesen, betont Perchinig. Ein Teil des Weges also - nicht das Ziel. Die Vergabe der Staatsbürgerschaft ist generell ein Zeichen dafür, wie sehr sich ein Staat selbst als Einwanderungsland versteht.

In den USA herrscht entsprechend das sogenannte "ius soli" - Staatsbürger ist, wer auf dem Boden des Landes das Licht der Welt erblickt. In Deutschland besteht seit Beginn der Jahrtausendwende eine abgeschwächte Version davon: Hat ein Elternteil seit acht Jahren rechtmäßig seinen Aufenthalt in Deutschland, erwirbt das Kind bei Geburt die Staatsbürgerschaft. Ein klares Zeichen dafür, dass sich die Bundesrepublik als Einwanderungsland versteht. Dem steht das in Österreich nach wie vor angewandte "ius sanguinis" gegenüber, bei dem die Abstammung über die Staatsbürgerschaft entscheidet. Österreichische Eltern haben österreichische Kinder, ausländische Eltern haben ausländische Kinder.

Die "Gastarbeiter" waren die Nächsten: In den 1960er Jahren kamen rund 230.000 Menschen vom Balkan und aus der Türkei nach Österreich. Beim Umgang mit diesen Menschen habe man sehen können, "wie man es nicht machen soll", so Perchinig. Es wurde ein zweiter Arbeitsmarkt geschaffen, die Leute wurden rechtlich benachteiligt und den Kindern wurde der soziale Aufstieg verwehrt.

Kulturelle Hürden

Anfang der 1990er Jahre flohen 90.000 Flüchtlinge vor dem Krieg in Bosnien, zwei Drittel blieben hier. Deren Integration gelang durch ein breites zivilgesellschaftliches Engagement, so Perchinig. Und das, obwohl etliche Bosnier Muslime waren. Doch die Frage der Kultur spielte damals und im Unterschied zu heute noch keine große Rolle. Einer, der die aktuelle Debatte um die Kultur von Migranten für problematisch hält, ist August Gächter vom Zentrum für Soziale Innovation (ZSI) in Wien. "Ich wäre extrem vorsichtig, mit Kultur zu argumentieren. Damit kann man alles erklären und nichts." Gächter beschäftigt sich schon länger mit den Thema Migration. Er hält nichts von der Suche nach einer Obergrenze für Zuwanderung. In Österreich kursierte vor einigen Jahren die Zahl 20.000, mehr gehe nicht, erklärt er. "Dann hat man die deutsche Bundesregierung gefragt. Die hat gesagt 20.000. Dann hat man die britische Regierung gefragt. Die hat auch gesagt 20.000. Es scheint also eine magische Zahl zu sein, unabhängig von der Größe des Landes. Als solche muss man sie auch behandeln", so Gächter. Im Endeffekt komme es "ganz und gar darauf an, wie kompetent die Gesellschaft im Umgang mit Zuzug ist."

Die Schweizer stimmten Anfang 2014 über die Initiative "Gegen Masseneinwanderung" ab. Auf diesen Weg wollte die nationalkonservative Schweizer Volkspartei eine Beschränkung des Zuzugs durchsetzen. Mit 50,3 Prozent wurde die Initiative knapp angenommen. Ab 2017 soll nun der Bund jedes Jahr eine Höchstzahl für Zuwanderung festlegen. Doch die Schweiz ist vertraglich eng verknüpft mit der sie umgebenden EU, und die Schweizer Pläne stehen im Widerspruch zu den bilateralen Verträgen mit Brüssel. Die Verhandlungen dauern immer noch an. Mittlerweile hat sich eine Initiative mit dem Namen "Raus aus der Sackgasse" (Rasa) formiert, die das Votum rückgängig machen will.

Spannendere Zugänge bieten Länder, die sich als Einwanderungsland verstehen. Deutschland hat mittlerweile neben einem ius soli ein eigenes Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge; in Kanada gibt es sogenannte Buddysysteme, bei denen sich Einheimische melden und Flüchtlinge unterstützen können, indem sie im Alltag oder beim Erlernen der Sprache helfen. Für Perchinig kommt dahinter ein anderes Verständnis zum Vorschein: "Die Debatte ‚Du bist hier geboren und hast mehr Rechte, du bist nicht hier geboren, du hast weniger Rechte‘, die gibt es dort nicht." Gächter stimmt zu: Wenn man es in den USA in eine höhere Gesellschaftsschicht schafft, werde man angenommen, in Österreich sei es hingegen immer noch so: "Egal wie hoch man es schafft, eine Generation lang wird den Menschen signalisiert, dass man eigentlich woanders hingehört."

Gibt es also eine Obergrenze für Migration, und wenn ja, wo liegt diese? Die Antwort muss offenbleiben, denn sie fällt unterschiedlich aus. Wie viel Platz im sprichwörtlichen Boot noch frei ist, hängt nämlich nur zum Teil von denjenigen ab, die hinein wollen, sondern vor allem vom Selbstverständnis derjenigen, die schon drinnen sitzen.