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Die Mandatsaberkennung

Von Günther Schefbeck

Politik

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Am 30. September hat der Verfassungsgerichtshof auf Antrag des Nationalrates dem Abgeordneten Peter Rosenstingl das Nationalratsmandat aberkannt. Da es sich um das erste Verfahren dieser Art

gehandelt hat, hat es eine nicht ganz einfache Rechtsfrage aufgeworfen und kommt der Entscheidung der Charakter eines grundlegenden Präzedenzfalls zu. Grund genug, ganz abgesehen von der politischen

Brisanz der Causa, sich mit den Rechtsgrundlagen des Verfahrens näher zu befassen.

Die Geschäftsordnungsbestimmungen

Das Bundesgesetz über die Geschäftsordnung des Nationalrates (GOG) verpflichtet in § 11 Abs. 1 jeden Abgeordneten, an den Sitzungen des Nationalrates und der Ausschüsse, in die er gewählt ist,

teilzunehmen. Für den Fall längerwährender Abwesenheit eines Abgeordneten von den Sitzungen des Nationalrates kennt das GOG zwei 30-Tage-Fristen.

Nach Ablauf der ersten dieser beiden Fristen hat, sofern eine Verhinderung nicht durch Krankheit begründet wird, der Nationalrat zu entscheiden, ob ein vom abwesenden Abgeordneten geltend gemachter

triftiger Grund für die Abwesenheit als solcher anerkannt wird, wenn aus dem Kreis der Mitglieder des Nationalrates eine Einwendung gegen die Trifitigkeit des Grundes erhoben wird. Wird die

Triftigkeit vom Nationalrat nicht anerkannt, ist nach § 11 Abs. 4 GOG der Abgeordnete aufzufordern, unverzüglich an den Sitzungen des Nationalrates wieder teilzunehmen, und hat der Präsident nach § 2

Abs. 1 Z 2 GOG den Abgeordneten aufzufordern, binnen weiterer 30 Tage zu erscheinen oder seine Abwesenheit zu rechtfertigen.

Leistet er dieser Aufforderung nicht Folge, wird er nach der letztgenannten Bestimmung seines Mandates verlustig. Dies ist vom Verfassungsgerichtshof aufgrund eines Antrages des Nationalrates

auszusprechen; ein solcher Beschluß des Nationalrates wiederum ist von dessen Hauptausschuß vorzubereiten.

So weit und so knapp die Bestimmungen des GOG, die vor dem "Fall Rosenstingl" niemals zur Anwendung gekommen, sondern nur gelegentlich als "Rute im Fenster" bwz. als Instrument der politischen

Auseinandersetzung verwendet worden sind, zuletzt als Abgeordnete der Regierungsfraktionen die Anwesenheit des Partei- und Klubobmanns der FPÖ in den Sitzungen des Nationalrates wiederholt

schmerzlich vermißten.

Der "Fall Rosenstingl"

Der "Fall Rosenstingl" ist fast genau fünf Monate alt. Anfang Mai dieses Jahres ließen Medienberichte aufhorchen, denen zufolge der (bis dahin der Öffentlichkeit wenig bekannte) FPÖ-Abgeordnete

Peter Rosenstingl verschwunden sei. Sein Ausschluß aus der FPÖ, der Haftantrag der Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts der Veruntreuung von Geldern, die Rosenstingl bzw. seiner

Wirtschaftstreuhandkanzlei anvertraut worden waren, und die Aufhebung der parlamentarischen Immunität Rosenstingls, worauf ein Haftbefehl ausgestellt und die weltweite Fahndung eingeleitet werden

konnte, folgten binnen der nächsten Tage.

Gleichzeitig wurde vom 12. Mai an seine unentschuldigte Abwesenheit von den Sitzungen des Nationalrates formell registriert und der Zeitplan für ein Mandatsaberkennungsverfahren festgelegt.

Wäre Peter Rosenstingl verschwunden geblieben, wäre dieses Verfahren wohl auch ohne weiteres Aufheben abgewickelt worden. Seine Verhaftung in Brasilien am 5. Juni hat die Situation jedoch verändert.

In einem von seinem damaligen Rechtsanwalt Georg Zanger an den Nationalrat gerichteten Schreiben suchte Rosenstingl sein Fernbleiben von den Sitzungen des Nationalrates nunmehr mit seiner

Inhaftierung "während eines Urlaubs in Brasilien" zu entschuldigen.

Für die Unzulässigkeit einer Mandatsaberkennung führte Zanger die in Österreich geltende Unschuldsvermutung ins Treffen; Nationalratspräsident Fischer hatte es leicht, demgegenüber darauf zu

verweisen, daß das GOG in seinen Bestimmungen über den Mandatsverlust wegen fortdauernder Abwesenheit keinen Zusammenhang mit dem Verdacht einer strafbaren Handlung oder dem Vorliegen einer solchen

herstelle.

Am 16. Juni, nach Ablauf der ersten 30-Tage-Frist, beschloß der Nationalrat einstimmig, die Triftigkeit der von Rosenstingl angeführten Entschuldigungsgründe nicht anzuerkennen, und der Präsident des

Nationalrates forderte Rosenstingl geschäftsordnungsmäßig auf, binnen weiteren 30 Tagen zu erscheinen oder seine Abwesenheit zu rechtfertigen. Am 15. Juli traf ein Brief des nunmehrigen

Rechtsvertreters von Rosenstingl, des Rechtsanwalts Manfred Ainedter, ein, in dem dieser als Rechtfertigungsgrund für die Abwesenheit seines Mandanten dessen andauernde Auslieferungshaft nannte. Vom

Nationalrat wurde dieser Rechtsfertigungsversuch nicht anerkannt: Neuerlich einstimmig stellte der Nationalrat am 17. Juli den Antrag an den Verfassungsgerichtshof, Rosenstingl seines Mandats für

verlustig zu erklären.

Am 1. September übermittelte Rechtsanwalt Ainedter dem Verfassungsgerichtshof die Gegenäußerung im Mandatsaberkennungsverfahren. Sie arbeitet nicht mehr mit Schlagworten wie "Unschuldsvermutung" (die

auch von Ainedter noch in seinem Schreiben vom 15. Juli angezogen worden war), sondern bringt ein Argument vor, das etwas mehr "sophisticated" klingt und das zuvor schon vom Grazer

Verfassungsrechtler Bernd Wieser vertreten und näher ausgeführt worden ist: Demzufolge sei die Voraussetzung der Mandatsaberkennung · nämlich binnen der zweiten 30-Tage-Frist nicht zu erscheinen oder

die Abwesenheit nicht zu rechtfertigen · nicht erfüllt, da mit dem Schreiben vom 15. Juli die Abwesenheit gerechtfertigt worden wäre. Bei der Rechtfertigung handle es sich nämlich bloß um die

Bekanntgabe eines Verhinderungsgrundes, eine Wertung sei dem Nationalrat hier versagt.

Inhaltlich verweist die Gegenäußerung neuerlich auf Rosenstingls Inhaftierung und den Umstand, daß Rosenstingl nach seiner Verhaftung keine Möglichkeit mehr gehabt hätte, nach Österreich

zurückzukehren.

Das Erkenntnis

Am 30. September schließlich hat der Verfassungsgerichtshof in nichtöffentlicher Sitzung dem Antrag des Nationalrates auf Mandatsaberkennung stattgegeben. Von der Möglichkeit, eine mündliche

Verhandlung anzuberaumen, hat das Höchstgericht nicht Gebrauch gemacht, da ihm der Sachverhalt schon aufgrund der Aktenlage hinreichend klar schien.

In der Begründung seines Erkenntnisses unternimmt es der Verfassungsgerichtshof, die vom Nationalrat verworfenen Rechtfertigungsgründe, die Rosenstingl durch seinen Anwalt vorgebracht hat, nochmals

inhaltlich zu prüfen.

Demnach wäre die Inhaftierung eines Abgeordneten im Ausland zwar grundsätzlich geeignet, seine Abwesenheit von den Sitzungen des Nationalrates zu rechtfertigen, nicht jedoch im vorliegenden Fall, da

Peter Rosenstingl die Möglichkeit gehabt hätte, freiwillig · mit den österreichischen Beamten, die ihn in Brasilien ausgeforscht hatten · nach Österreich zurückzukehren und dadurch die von ihm als

Rechtfertigungsgrund angeführte Auslieferungshaft abzuwenden, die ja gerade dem Ziel diene, seine Überstellung nach Österreich zu sichern.

Rosenstingl habe somit nicht das Seine getan, um seiner Verpflichtung zur Anwesenheit in den Sitzungen des Nationalrates nachkommen zu können.

Von den drei Optionen, die dem Verfassungsgerichtshof grundsätzlich offengestanden wären · nämlich (1.) die Entscheidung über das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen für die Abwesenheit als eine

politische Entscheidung (wie etwa jene über die "Auslieferung" eines Abgeordneten an die Strafverfolgungsbehörden) dem Nationalrat zu überlassen und lediglich die rechtmäßige Einhaltung der

prozeduralen Vorschriften durch den Nationalrat zu überprüfen oder (2.) die inhaltlich wertende Entscheidung über das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen im Falle des Vorliegens einer formalen

Rechtfertigung überhaupt als unzulässig anzusehen (wie dies der Rechtsvertreter Rosenstingls gefordert hat) oder aber (3.) selbst die Rechtfertigungsgründe inhaltlich zu prüfen ·, hat das

Höchstgericht somit die letztgenannte gewählt.

Diese Interpretation der Rechtsvorschriften für die Mandatsaberkennung erscheint auch rechtspolitisch sinnvoll: Bliebe die inhaltliche Wertung vorgebrachter Rechtfertigungsgründe dem Nationalrat

überlassen, könnte ein Restrisiko, daß eine solche Entscheidung politischer Willkür unterliege, nicht ausgeschlossen werden. Wäre andererseits, wie dies der Argumentationslinie von Professor Wieser

und Rechtsanwalt Ainedter entspräche, dem Abgeordneten durch § 2 Abs. 1 Z 2 GOG alternativ zu seinem Erscheinen im Nationalrat die Möglichkeit eingeräumt, seine Abwesenheit in beliebiger, materiell

nicht zu überprüfender Weise zu "rechtfertigen", dann wäre das Rechtsinstitut der Mandatsaberkennung ein eher zahnloses, das seine Funktion, die Abgeordneten zur Erfüllung ihrer Pflicht zur Teilnahme

an den Sitzungen des Nationalrates zu verhalten, praktisch nicht oder nur im Fall des spurlosen Verschwindens eines Mandatars erfüllen könnte.

Käme ein Mandatar einer solchen Schwäche dieser Gesetzesbestimmung jedoch nicht so weit entgegen, daß er sich entschließt, überhaupt kein Lebenszeichen mehr von sich zu geben · wie jener britische

Unterhausabgeordnete, der zu Anfang der 70er Jahre das Kindermädchen (das er im Dunkel der Nacht mit seiner Frau verwechselt haben dürfte) ermordete und daraufhin untertauchte ·, sondern

"rechtfertigt" der Mandatar seine Abwesenheit in jeder beliebigen Art, so hätte der von Professor Wieser vorgetragenen Argumentationslinie zufolge der Nationalrat nicht mehr die Möglichkeit, ein

Mandatsverlustverfahren einzuleiten.

Nationalratsabgeordneten wäre damit das Privileg eingeräumt, eine bezahlte Funktion zwar nicht auszuüben, aber dennoch · bis zum Ende der Funktionsperiode · die aus dieser Funktion erfließenden

Bezüge zu konsumieren.

Was heißt "rechtfertigen"?

Die Frage, die es zu beantworten galt, lautet somit: Was heißt "rechtfertigen"? Ist "Rechtfertigung" ein einseitiger, nicht annahmebedürftiger Akt des sich Rechtfertigenden, oder ist sie vielmehr

annahmebedürftig? Professor Wieser hat seiner Interpretation das ersterwähnte Wortverständnis zugrundegelegt.

Untersucht man jedoch die Verwendung des Begriffs in anderen österreichischen Rechtsnormen · eine Legaldefinition seiner Verwendung im GOG steht ja nicht zur Verfügung ·, dann zeigt sich, daß er sehr

oft (beispielsweise in §§ 34 und 37 StGB, § 420 StPO oder §§ 128 und 135 ZPO) im Sinn von Annahmebedürftigkeit gebraucht wird, also einer materiellen Prüfung durch den Adressaten unterliegt.

Die Wortinterpretation des Begriffs "rechtfertigen" scheint also eher eine Annahmebedürftigkeit einer Rechtfertigung nahezulegen. Ein eindeutiges Ergebnis wird aber jedenfalls aus der schlichten

Verbalinterpretation nicht zu gewinnen sein.

Logisch-systematisch interpretiert Professor Wieser weiter: Da § 11 Abs. 4 GOG für die Anerkennung der Triftigkeit der Abwesenheitsgründe nach der ersten 30-Tage-Frist eine Entscheidung des

Nationalrates vorsieht, § 2 Abs. 1 Z 2 jedoch nicht von einer solchen Entscheidung hinsichtlich der Anerkennung der Rechtfertigungsgründe nach der zweiten 30-Tage-Frist spricht, bedürfen diese

Rechtfertigungsgründe keiner solchen Anerkennung.

Auch das logisch-systematische Argument läßt sich jedoch unschwer umdrehen: § 11 Abs. 4 sieht eine im Abstimmungsweg zu treffende Entscheidung des Nationalrates nur für den Fall vor, daß eine

Einwendung gegen die Triftigkeit der Gründe erhoben wird; andernfalls gilt die Triftigkeit als anerkannt. Nach Ablauf der zweiten 30-Tage-Frist, also auf der nächsten Stufe des Verfahrens der

Mandatsaberkennung, ist jedoch in jedem Fall eine formelle Entscheidung des Nationalrates notwendig, ob ein Rechtfertigungsgrund vorliegt, und gilt nicht mehr die nach den ersten 30 Tagen noch

zugunsten des Abgeordneten wirksame Automatik, daß, wenn sich keine explizite Einwendung erhebt, die Triftigkeit des Abwesenheitsgrundes als anerkannt gilt.

Auch dieser umgekehrte logisch-systematische Interpretationsansatz mag nicht zwingend sein; jener Wiesers ist es aber auch nicht.

Damit erweist sich schließlich der Rekurs auf die nächste Stufe der Normenauslegung, die historische Interpretation, als notwendig.

Die historische Entwicklung

Der Normenbestand des GOG ist die Frucht einer, wie es im Ausschußbericht zum GOG 1975 heißt, "imponierenden Tradition" der Entwicklung des Geschäftsordnungsrechts, die in vielem bis 1848,

jedenfalls aber bis 1861 zurück reicht. Um den historischen Willen des Geschäftsordnungsgesetzgebers zu erschließen, gilt es daher, mit der rechtshistorischen Spachtel Schicht um Schicht des

Normenbestandes abzutragen, bis man zur untersten, zur ersten Schicht vorstößt, in welcher eine bestimmte Norm grundgelegt ist, oder aber aufzuweisen, daß auf einer bestimmten Stufe der

Rechtsentwicklung der Geschäftsordnungsgesetzgeber bewußt eine Veränderung des Bedeutungsgehalts einer Norm intendiert hat.

Auch die Bestimmungen des § 2 Abs. 1 Z 2 GOG einerseits und des § 11 Abs. 4 GOG andererseits entstammen im Kern sehr unterschiedlichen Schichten des Geschäftsordnungsrechts, was auch den

verschiedenen Detaillierungsgrad der einzelnen Regelungen erklärt.

Die letztere Regelung stammt in ihrer heutigen Formulierung aus dem Jahr 1988 und in ihrer Substanz aus dem Jahr 1975, als die bedeutendste und umfassendste Reform in der Geschichte des

Geschäftsordnungsrechts mehr prozedurale Klarheit in das GOG zu bringen suchte. Daher kann es auch nicht überraschen, daß hier eine explizite Verfahrensbestimmung Aufnahme in den Gesetzestext

gefunden hat. Dies war bis dahin in vielen Zusammenhängen nicht der Fall gewesen, wie ein Blick in die 1968 erschienene erste Auflage des klassischen Geschäftsordnungskommentars von Wilhelm F. Czerny

und Heinz Fischer (dessen Erscheinen wiederum maßgeblich zu den im GOG 1975 mündenden Reformbestrebungen beigetragen hat) lehrt.

Die Bestimmung des § 2 Abs. 1 Z 2 GOG ist in ihrem Kern sehr viel älter und geht bis auf das den Beginn einer kontinuierlichen Entwicklung des Parlamentsrechts markierende erste

Geschäftsordnungsgesetz aus dem Jahr 1861 zurück, das wiederum jene Bestimmung des § 17 des Grundgesetzes über die Reichsvertretung, der zufolge eine dauernde Verhinderung eines Abgeordneten eine

Neuwahl zur Folge haben sollte, näher ausführte. Dem § 4 des GOG 1861 gemäß ging ein Abgeordneter dann seines Mandates verlustig, wenn er "der vom Präsidenten ergangenen Aufforderung, binnen 14 Tagen

zu erscheinen oder seine Abwesenheit zu rechtfertigen," nicht Folge leistete.

Änderung der Fristbestimmungen

Geändert haben sich also nur die Fristbestimmungen, nicht die Begrifflichkeit. Und dieser Rechtfertigungsbegriff, der hier Verwendung findet, wurde vom Geschäftsordnungsgesetzgeber ganz eindeutig

im Sinne einer Annahmebedürftigkeit der Rechtfertigung für die Abwesenheit eines Abgeordneten durch das Haus verstanden, wie die unmittelbar auf die Erlassung dieses Gesetzes folgende Praxis beweist.

Die erwähnte Bestimmung des Grundgesetzes über die Reichsvertretung und des Geschäftsordnungsgesetzes war nämlich keineswegs · wie die auf ihr fußende Bestimmung der Nationalratsgeschäftsordnung vor

dem "Fall Rosenstingl" · totes Recht, sondern für eine ganz reale und aktuelle politische Situation gedacht, nämlich als Handhabe gegenüber der Weigerung der Abgeordneten einzelner Kronländer bzw.

ethnischer Gruppen, an den Verhandlungen des Reichsrates teilzunehmen, dessen verfassungsrechtliche Grundlagen sie nicht anerkannten.

Dies galt insbesondere für die tschechischen Abgeordneten aus dem Königreich Böhmen, die erst ab 1879 ihre Mandate geschlossen ausübten. Ihre mit staatsrechtlichen Argumenten untermauerten

Rechtfertigungsschreiben hatten bis dahin nicht die Anerkennung der Mehrheit des Abgeordnetenhauses gefunden, was wiederum jeweils zum Mandatsverlust geführt hatte.

Über die Frage der Anerkennung hatte regelmäßig eine formelle Abstimmung im Haus stattgefunden, und diese Vorgangsweise war, abgesehen von dem mehrfach gestellten, aber jeweils abgelehnten Antrag,

ein solches Rechtfertigungsschreiben vor der Beschlußfassung einem Ausschuß zur Vorberatung zuzuweisen, nur einmal grundsätzlich kritisiert worden, nämlich am 10. Dezember 1873 von einem

deutschliberalen Abgeordneten, der meinte, es bedürfe nicht einmal einer Abstimmung, sondern ein Ausspruch des Präsidenten über das ungerechtfertigte · das heißt nicht mit einer inhaltlich

anerkannten Rechtfertigung begründete · Ausbleiben würde auch ausreichen, aber vom damaligen Präsidenten Rechbauer belehrt wurde: "Ob das Ausbleiben also gerechtfertigt ist oder nicht, darüber zu

entscheiden ist Gegenstand des hohen Hauses."

Obgleich die in Rede stehende Geschäftsordnungsbestimmung also keine explizite prozedurale Aussage beinhaltet, ist der Wille des Geschäftsordnungsgesetzgebers aus der historisch-genetischen

Interpretation unter Berücksichtigung der Anwendungspraxis, die im Parlamentsrecht eine so wichtige Rolle spielt, mit hinreichender Klarheit ableitbar. Eines weiteren Rekurses auf die nächsthöhere

und höchste Stufe der Normenauslegung, die nicht ganz unproblematische teleologische Interpretation, welche die Zielsetzung einer Rechtsvorschrift untersucht, bedarf es daher nicht mehr. Würde indes

auch dieser Schritt noch gesetzt, dann würde die in § 11 Abs. 1 GOG verankerte Verpflichtung der Abgeordneten zur Teilnahme an den Sitzungen einen wohl überzeugenden Hinweis auf die Intention des

Gesetzes geben.

In einer Hinsicht unterscheidet sich das Verfahren zur Aberkennung des Nationalratsmandats freilich von jenem, das zur Aberkennung des Mandats im Abgeordnetenhaus geführt hat: Trat damals der

Mandatsverlust ex lege, also als automatische Folge des Ausbleibens eines Abgeordneten bzw. der Verweigerung der Anerkennung seiner dafür formulierten Rechtfertigung durch das Haus ein, so ist seit

1920 eine weitere Instanz in das Verfahren eingebunden, nämlich der Verfassungsgerichtshof, der auf Antrag der Nationalrates den Mandatsverlust ausspricht.

Letzte Sicherheitsvorkehrung

Gleich dem Verfahren der Wahlprüfung, das in der Monarchie ebenfalls vom Abgeordnetenhaus selbst durchgeführt worden war und durch die Bundesverfassung von 1920 dem Verfassungsgerichtshof

übertragen worden ist, ist so auch im Mandatsaberkennungsverfahren eine "Entpolitisierung" oder "Verrechtlichung" herbeigeführt worden. Damit ist eine letzte Sicherheitsvorkehrung gegen jedwede Art

politischer Willkür geschaffen und scheint ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den gleichermaßen berechtigten Forderungen nach Effizienz und Rechtssicherheit im Verfahren der Mandatsaberkennung

hergestellt.Õ

Günther Schefbeck ist Leiter des Parlamentsarchivs

OKTOBER 1998