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"Die Mathematik als Lebensform"

Von Eva Stanzl

Wissen
Mathematiker Sigmund: "das Verdeckte hervorkehren".
© Rainsborough

Sind Zahlen eine Art zu denken? Philosoph Wittgenstein untersuchte die mathematische Sprache.


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Kirchberg. Beim 41. Wittgenstein Symposium in Kirchberg am Wechsel diskutieren Experten bis 11. August zum Jahresthema "Die Philosophie der Logik und Mathematik". Der Wiener Mathematiker Karl Sigmund gibt im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" Einblicke in das mathematische Denken des Philosophen. Am Samstag referiert er bei dem Symposium, das jedes Jahr andere philosophische Disziplinen thematisiert, von der Logik über die Wahrnehmung bis hin zu Ästhetik und Künsten.

"Wiener Zeitung": Ludwig Wittgenstein ist in erster Linie für seine Sprachphilosophie bekannt. Er befasste sich aber auch mit Mathematik. Worum ging es ihm dabei und was ist der Bezug zu heute?Karl Sigmund: Wittgenstein hat viel über die Philosophie der Mathematik geschrieben, und das ist ja auch eine Sprache. Unsere heutige Zeit ist durch die Digitalisierung geprägt. Apps sind Algorithmen, Kalküle. Wittgenstein befasste sich mit der Rolle von Kalkülen in der Mathematik, um diese Art der Formalisierung zu verstehen. Einen Menschen, der am Handy herausfinden will, wann ein Zug auf den Schafberg geht, interessiert das allerdings nicht. Er will nur anwenden. Wie ein Anzug die Nähte, verdeckt die App ihre mathematisch-algorithmische Seite. Und Wirrgenstein wollte immer das Verdeckte hervorkehren.

Woran forschte der Philosoph?

1939 besuchte Alan Turing (Erfinder des Computers, Anm.) Wittgensteins Vorlesungen und diskutierte laufend mit ihm. Während sich Turing mit den Grundlagen der Mathematik auseinandersetzte, die Überlegungen des Logikers Kurt Gödel weiterführte und in England nach dem Zweiten Weltkrieg den ersten Computer baute, standen für Wittgenstein die Strukturen der Mathematik nicht im Vordergrund. Er sagte sogar, er sehe seine Aufgabe darin, an Gödel "vorbeizureden". Anders als Turing war er nicht an der Formalisierung der Mathematik interessiert, die die Grundlagen der heutigen Digitalisierung bietet, sondern an Mathematik als eine Art Lebensform. Er sah sie als Phänomen, das unser Leben betrifft. Wie lernt ein Volksschulkind, dass Mathematik nützlich ist? Wie sprechen die Mathematiker über ihr Fach? Wittgenstein beobachtete sie quasi als einen sonderbaren Stamm von Eingeborenen und untersuchte sie von außen so wie ein Anthropologe.

Wie verhält sich dieser "sonderbare Stamm"?

Die Mathematiker sprechen miteinander in einem Jargon. Sie verstehen einander ausgezeichnet, müssen dabei aber meistens Schriftzeichen verwenden. Diese Mathematikersprache ist aber nicht eine, die ein Computer verstehen könnte. Mit enorm viel Mühe kann ein Beweis, den ein Mensch mühelos verstehen kann, in eine Folge von Computerbefehlen übersetzt werden. Und mit noch mehr Mühe versuchen Experten, das, was ein Computer als Beweis verifizieren kann, so zu übersetzen, dass ihn auch die Mathematiker wieder verstehen können. Wittgenstein wollte wissen, wie sie miteinander sprechen, und wäre sehr interessiert an den heutigen Versuchen, diese Sprachen zu übersetzen.

Was muss übersetzt werden?

Man kann mathematische Aussagen als Folgen von Symbolen treffen. Jede neue Zeile ist eine Folge jener davor, nach gewissen Regeln hergeleitet. Das Ergebnis sind formalisierte Beweise. Wenn ein normaler Mathematiker sie anschaut, werden sie ihm nichts geben. Er sieht nur eine Folge von Strichen und Zeichen. Aber ein Computer kann die Korrektheit so eines Beweises verifizieren. Derzeit wird an Computern gearbeitet, die diese Zeichen in eine Sprache übersetzen, die auch ein menschlicher Mathematiker versteht, und das hätte Wittgenstein fasziniert.

Zwei Generationen später wurde mit Alpha Go ein Computerprogramm erfunden, das das komplexe japanische Brettspiel Go selbst lernen kenn. Welche Anwendungen für Wittgensteins mathematisches Denken sind künftig vorstellbar?

Schon heute können Computer mathematische Sätze beweisen. Aber wenn sie mit der mathematischen Alltagssprache vertraut werden, könnten sie selbst interessante Probleme finden und sie dem Menschen erklären. Etwas wie Alpha Go könnte auch in der Mathematik entstehen: Ein Computer, der die Züge der Meister nicht nur schneller denkt als der Mensch, sondern der auch neue mathematische Strategien entwickelt.

Ist künstliche Intelligenz tatsächlich intelligent?

Die künstliche Intelligenz von heute ist relativ simpel. Google Translate führt uns vor, wie viele Fehler solche Systeme machen. Aber es könnte durchaus ein Dialog zwischen Menschen und der relativ eng umschriebenen Intelligenz im mathematischen Bereich entstehen.