Zum Hauptinhalt springen

Die Mathematik von den Menschen

Von Eva Stanzl

Wissen

Schrumpfung Europas sowie Bevölkerung und Klimawandel als Themen. | Experte: "Fruchtbarkeit in reichen Ländern wird wieder ansteigen." | Absage der Forscher an Sarrazin: "Das ist falsch." | Wien. Überalterung, sinkende Geburtenraten und die schrumpfende Bevölkerung zählen zu den brisantesten Themen in Europa. Kontroverse Debatten werden über die Anhebung des Pensionsalters, qualifizierte Zuwanderung und die Ausgestaltung familienpolitischer Maßnahmen geführt.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Weder Politik noch Wirtschaft finden zukunftsfähige Lösungen. Dabei gäbe es viele gute Ideen. Einige davon diskutieren Experten derzeit bei der "European Population Conference" (EPC). Der größte Kongress der bevölkerungswissenschaftlichen Forschung in Europa steht heuer unter dem Titel "Bevölkerung und Umwelt". Neben dem Klimawandel in Relation zur Bevölkerungsdichte stehen Fertilität und Sterblichkeit, die Beziehung zwischen den Generationen, sozialer Wandel und Migration sowie Bildung und Gesundheit auf dem Programm. Die Ergebnisse der Tagung könnten als fundierte Basis für gesellschaftliche Entscheidungen dienen. Ob fundierte Fakten in Wahlkampf-Zeiten jedoch Eingang in die Tagespolitik finden, ist maximal zu hoffen.

Präzise und vage Antworten auf alle erdenklichen Fragen

Einen Demografen kann man praktisch alles fragen: Die Mathematik von den Menschen hat fundierte Antworten egal, worum es geht. "Grundsätzlich ist die Demografie die zahlenmäßige Beschreibung der Veränderung der Population durch Geburten- und Sterberaten, Fertilität und Migration. Das sind die Hauptaspekte, die eine Bevölkerung verändern können", sagt Wolfgang Lutz, Direktor des Vienna Institute of Demography (VID) und Kongress-Vorsitzender, zur "Wiener Zeitung".

Jedoch lassen sich die mathematischen Methoden dieser Wissenschaft auf viele anderen Fragestellungen umlegen. Von persönlichen Werte-Vorstellungen bis hin zur Zahl der Menschen mit grauen Haaren im Jahr 2025 kann fast alles berechnet werden. "Allerdings", sagt Lutz, mit einem Augenzwinkern, "konzentrieren wir uns auf die Dinge mit Relevanz."

Wie verlässlich eine Prognosen ist hängt davon ab, wie viele stabile Faktoren sie enthält. Eine Matura kann einem zum Beispiel niemand wegnehmen. "Wenn wir wissen, wie viele 25-jährige Frauen heute Matura haben, wissen wir auch, wie viele 50-Jährige das in 25 Jahren sein werden. Und wir wissen, dass in 45 Jahren der Anteil der 70-jährigen Frauen mit Matura höher sein wird als heute - weil mehr Frauen diesen Abschluss haben, sie älter werden und weil besser gebildete 70-Jährige höhere Überlebenschancen haben", sagt Lutz. So weit, so fix. Andere Prognosen arbeiten mit größeren Unschärfen - etwa jene zur Zahl der künftigen Geburten.

Die Weltbevölkerungsberechnungen sind komplex: Demografen wissen zwar, wie viele Frauen im Jahr 2025 im Alter von 20 bis 45 Jahren sein werden. Aber sie

wissen nicht, wie viele Kinder diese Frauen zur Welt bringen werden. Also gehen sie bei Prognosen von heutigen Zahlen aus und erweitern sie um Wahrscheinlichkeiten: Etwa ist es unwahrscheinlich, dass eine heute 38-jährige Frau noch vier Kinder auf die Welt bringen wird, ein Kind ist aber durchaus möglich.

Die Schrumpfung ist nichtunbedingt nur ein Nachteil

Trotz solcher Unschärfen sind viele Antworten höchst interessant. Laut einer EU-Statistik für 2010 stellen die EU-27 derzeit 7,3 Prozent der Weltbevölkerung. Da die Population der Entwicklungsländer jedoch deutlich wachsen wird, wird der Anteil der Bevölkerung Europas bis 2060 auf 5,7 Prozent zurückgehen - Türkei, Russland und der Kaukasus eingerechnet.

Lutz zufolge ist das nicht unbedingt nur ein Nachteil. Er hinterfragt, ob es überhaupt ein sinnvolles Ziel ist, zu wachsen: "Nur, weil es kein Erfolgsbeispiel für das Schrumpfen gibt, ist ewiges Bevölkerungswachstum noch lange nicht die Ultima Ratio", erklärt der diesjährige Wittgenstein-Preisträger.

Er sieht die Lösung weniger darin, dem demografischen Schrumpfen mit gezielter Zuwanderung entgegen zu treten, als in einer Anhebung des Bildungsniveaus. "Wenn wir den Bildungsstandard heben, könnte es uns gelingen, den Lebensstandard zu halten, ohne dass wir mehr arbeiten müssen. Dafür müsste allerdings die Beschäftigungsquote von Frauen und älteren Menschen steigen. Gezielter Zuzug einzig und allein, um unser demografisches Problem zu lösen, ist nicht richtig. Wir müssen mehr in die Bildung investieren, von Europäern und Migranten gleichermaßen. Genau das fördert den Wohlstand - und die Integration."

Würde Europa mehr für Bildung ausgeben, wäre die demografische Schrumpfung also kein Thema mehr. Lutz zufolge wäre ein Rückgang des Bevölkerungswachstums zudem gut für das globale Klima. Weniger Menschen verursachen weniger Treibhausgase. Nicht nur in Schwellen- und Entwicklungsländern, sondern auch in Europa wären rückläufige Einwohnerzahlen ein durchaus positiver Beitrag, betonte er.

Wenn man sich trotzdem über Wachstum Gedanken macht: Was wäre, wenn Menschen wieder früher und daher mehr Kinder bekämen? Wäre das auch in Hinblick auf das veränderte Familien-Verständnis und die Gleichberechtigung von Mann und Frau ein wünschenswertes Ziel?

"Gynäkologen sind sich einig, dass schon ab dem Alter von 25 Jahren medizinische Risikofaktoren auftauchen", erklärt Lutz: "Das widerspricht aber der feministischen Sicht. Dass Frauen heute weniger Kinder bekommen liegt daran, dass sie das mit neuen Verhütungsmitteln aus freien Stücken tun. Neu ist das freiwillige Schrumpfen im Wohlstand." Eine Systemveränderung müsste genau diesen Faktor berücksichtigen, was enorme Förderungen durch den Staat bedürfe, und ein Umdenken in der Gesellschaft.

Flexibleres Leben und Kinderals Schlüssel zum Glück

An sich spräche einiges dafür, Kinder schon während des Studiums zu bekommen. "Immerhin kann man sich später im Leben kaum jemals wieder einer derart freie Zeiteinteilung freuen." Noch mehr spräche wohl aber dafür, Lebensphasen flexibler ablaufen zu lassen, etwa indem Menschen später in den Beruf einsteigen, oder diesen auch mit Unterbrechungen verfolgen könnten. Noch sind Formen der Familienförderung, die immer besser ausgebildeten Bevölkerungen größere Flexibilität einräumen, die Ausnahme. Doch sie sind sie die Zukunft, betont Franceso Billari, Direktor des Dodenda-Zentrums für Soziale Dynamik in Mailand.

Laut Billari ist die Annahme, zunehmender Wohlstand gehe mit sinkenden Geburtenraten einher, falsch. Seinen Forschungen zufolge steigt die Fertilität, je höher entwickelt und besser ausgebildet eine Gesellschaft ist. "Die Debatte zur Fertilität dreht sich zu sehr um Ideologien und zu wenig um Fakten. Früher bekam man Kinder, um seine Altersvorsorge zu sichern. Heute bekommt man sie, weil man meint, dass Kinder glücklich machen. Um ein freudvolles Leben mit Kindern zu finanzieren, sind zwei Einkommen nötig. Systeme, in denen Beruf und Familie erfolgreich vereinbart werden können und die Gleichberechtigung von Mann und Frau fördern, haben eine steigende Fruchtbarkeit zur Folge", streicht der Demograf hervor.

Die Bildunsschicht wechseln, Zuwanderer gleichgestellt

Kinder zu haben, sei ein Schlüssel zu einem erfolgreichen Leben. Der Schlüssel zu einer erfolgreichen Gesellschaft sei, das zu ermöglichen. Geschafft haben das offenbar Australien und die nordischen Länder, wo die Fertilität bei zwischen 1,8 und 2 Kindern liegt (Österreich: 1,4). So hätten sich in Skandinavien das allgemein akzeptierte und teils verpflichtende Karenzjahr für den Mann sowie Kindergärten in den Unis als Erfolg erwiesen. Rund sieben Prozent der skandinavischen Studentinnen seinen Mütter - ein vergleichsweise hoher Prozentsatz. "Man kann Ziele nicht befehlen. Man muss es ihnen ermöglichen, ihre Ziele zu verwirklichen", betont Bellari. Er rechnet damit, dass die Geburtenraten in den nächsten 30 Jahre in reichen Ländern wieder steigen und sich bei Zuwanderern auf gleicher Ebene einpendeln werden.

Diese positivistische Sicht tönt anders als die umstrittenen Thesen des deutschen Bundesbank-Vorstands Thilo Sarrazin, wonach Deutschland auch durch Zuwanderung "auf natürlichem Wege immer dümmer" werde. Sarrazin argumentiert in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab", dass sich das schwächere Bildungsniveau vieler Zuwanderer gepaart mit höherer Fertilität negativ auf das Bildungsniveau auswirke. Demografen in Wien erteilen diesen Thesen eine Absage mit einem klaren "Das ist falsch" .

Sarrazins Fehler ist laut Frans Willekens vom Netherlands Interdisciplinary Demographic Institute schon der Umstand, dass sich die Fertilität von Migranten innerhalb von wenigen Generationen an das Gastland anpasst. Außerdem sei nicht gesagt, dass alle Menschen in der Bildungsschicht bleiben, in der sie aufgewachsen sind. Lutz verweist zudem darauf, dass in den 60er und 70er Jahren etwa durch Österreich bewusst Einwanderer aus niederen Bildungsschichten angeworben wurden. Dabei könnte die mangelnde Bildung rasch behoben werden.