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Die Mauer in den jungen Köpfen

Von Antje Krüger

Europaarchiv

So alt wie die Deutsche Einheit: 15-Jährige über Ost und West. | Berlin. Entnervt schaut Johannes von der Schulbank hoch. "Man sollte nicht so unterscheiden, die kommt aus dem Osten, die aus dem Westen, weil beides seit 15 Jahren einfach keine Rolle mehr spielt", meint er. "Ja", fügt Maike hinzu, "dafür ist die Einigung ja da, damit das nicht mehr so ist."


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Johannes und Maike sind 15 Jahre alt. Sie wurden im Jahr der deutschen Einheit geboren. Das Land, das am 3. Oktober 1990 mit einer riesigen Jubelfeier seine Vereinigung beging, ist noch immer von tiefen Gräben durchzogen. Einige davon sind offensichtlich und spiegeln sich etwa im West-Ost-Gefälle von Arbeitslosigkeit, Einkommensverteilung oder unterschiedlichem Wahlverhalten wider.

Andere sind subtil. Sie wirken im Unbewussten selbst bei denjenigen, die das geteilte Land nur aus Erzählungen, dem Fernsehen oder dem Unterricht kennen - den 15-Jährigen.

Im Klassenraum des Kant-Gymnasiums in Berlin Spandau im ehemaligen Westberlin ist es unruhig. Ein Interview über die deutsche Einheit. Was sie da bloß erzählen sollen . . .

"Für uns Jugendliche ist das nicht so wichtig, ob wir jetzt im Osten gewohnt haben oder im Westen, weil wir noch sehr klein waren, aber für die Erwachsenen, glaube ich, schon. Ihre Erinnerungen kommen aus dem Osten oder Westen", sagt Maike. Aber merkt man denn Unterschiede in der Stadt? Eine Frage wie Zündstoff. "Ich denke immer, im Westen ist alles ordentlich: Schöne Straßen, Wälder, Blumen, Wiesen. Und im Osten dann so Jugendgangs, eingeschlagene Fenster, beschmierte Häuser", fällt Maike sofort ein. Und Anja stimmt zu: "Ja, da sind auch die Farben immer so komisch. Grau und Trübsal."

"Da ist ja nichts"

Das Bild ist klar, das von sich selbst und von den anderen. Rüberfahren ist Blödsinn. "Was soll man denn da? Da ist ja nichts", meint Katarina. Drüben aber steht auch ein Kant-Gymnasium, die Immanuel-Kant-Oberschule in Lichtenberg. Zwei Schulen in einer Stadt, in ehemals geteilten Bezirken. Nur eine Stunde Fahrt trennt die beiden Lehranstalten. Dazwischen aber liegen Welten.

"Irgendwer hat mal versucht, mich als Ossikind abzustempeln und da hab ich gesagt, nö, bin ich nicht. Ich bin geboren, nachdem die Mauer gefallen war" versucht auch Florian in Ostberlin die Einheit herzustellen. Doch ihre Umwelt drängt die Jugendlichen immer wieder zurück in alte Kategorien. "Man merkt ja auch heute noch viele Unterschiede durch die Medien und Politiker", stellt Inga fest.

Der Westen, das sind die Anzugträger, die teuren Läden, die Einkaufsmöglichkeiten, ein höheres Gehalt. "Also, am besten im Westen arbeiten und im Osten wohnen. So kriegt man das meiste Geld", lacht Franziska spöttisch.

Ferne Geschichte

Dabei ist es nicht das Wissen um die eigene Geschichte, welches die Gräben zieht. Das getrennte Deutschland ist genauso weit weg wie die Weimarer Republik oder die beiden Weltkriege. "Wenn man Ostthemen behandelt, ist auffällig, dass manchmal das Befremden über die Art und Weise, wie die Leute im Osten gelebt haben, größer ist als über das Zeitalter des Barock. Also, der Osten ist für sie emotional weiter weg als andere Geschichtsepochen. Es irritiert sie, wohl auch deshalb, weil es eben die Geschichte ihrer eigenen Eltern ist" sagt die Lehrerin Maritta Neumann aus Lichtenberg.

Es sind die subtilen Alltagserfahrungen, welche die Kluft verbreitern. Doch die Vorurteile der Jugendlichen sind nicht böse gemeint. Oft ist es ihnen nicht einmal bewusst, wohin sie die andere Seite stecken. "Vielleicht ist das auch teilweise unsere Einbildung. Weil, das kann ja sein, dass wir wissen, ja, damals war das so und so und dass wir jetzt denken, ja, stimmt", meint Katarina aus Spandau nachdenklich.

Die erste gesamtdeutsche Generation sieht ihre Unterschiedlichkeit, aber sie wertet sie nicht. Sie akzeptiert sie, ohne ein Gefühl von Über- oder Unterlegenheit aufkommen zu lassen. Gerade, weil die Jugendlichen nicht eine deutsche Gleichheit erzwingen wollen, könnte ein Deutschland in seiner ganzen Vielschichtigkeit irgendwann einmal angenommen werden.

Denn, so fasst Maike zusammen: "Irgendwie gerät Deutschland immer wieder auseinander. Dass es Ost und West gibt und Ausländer und Deutsche - und irgendwie sind wir gar kein einiges Deutschland."