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Die Medien im Wohnzimmer

Von Katharina Schmidt

Analysen

Nach acht Jahren Gefangenschaft: Am 23. August gelang Kampusch die Flucht. | Medien und Politiker nutzten das Ereignis aus. | Wien. Mittwoch, der 23. August 2006, 16.29 Uhr: Die Austria Presse Agentur schickt eine mit "eilt" gekennzeichnete Meldung aus, die sämtliche Redaktionen des Landes in helle Aufregung versetzt. Mit der Nachricht unter dem Titel "Fall Natascha Kampusch: Frau behauptet, Vermisste zu sein" wird ein Medienrummel ausgelöst, der "alle Grenzen sprengt", wie Kampuschs Medienanwalt Gerald Ganzger meint.


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Die Geschichte der 18-Jährigen ist hinlänglich bekannt 1998 wurde sie aus der Siedlung am Rennbahnweg, einem sozialen Randviertel Wiens, entführt. Medien und Privatermittler stürzten sich auf den Fall, machten soziale Umstände für das Verschwinden der pummeligen, introvertierten Volksschülerin verantwortlich und verdächtigten die Mutter, Brigitta Sirny.

Gleich nach der Flucht der 18-Jährigen aus dem Kellerloch im niederösterreichischen Strasshof überschlugen sich die Gerüchte in den Medien. Sie habe "Gebieter" zu ihrem Entführer, dem Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil, sagen müssen. Außerdem sei sie wahrscheinlich seine Sexsklavin gewesen, spekulierten die Journalisten.

Boulevard und Qualität: Grenze verschwimmt

Und zwar quer durch alle Medien: Denn bei einem derart spektakulären Fall verschwimmt die Grenze zwischen Boulevard- und Qualitätsmedien. Diese "klassische Unterscheidung ist nicht mehr gültig", sagt auch der von Kampusch engagierte Medienberater, Stefan Bachleitner. Das Rennen um das erste Interview machte schließlich der ORF, 2,7 Millionen Österreicher saßen vor dem Bildschirm - ein Rekord.

Auch im Wahlkampf wurde der Fall Kampusch ausgeschlachtet. Justizministerin Karin Gastinger, damals noch beim BZÖ, wollte den Strafrahmen für Freiheitsentziehung in besonders schweren Fällen von zehn auf zwanzig Jahre erhöhen. Die ÖVP verlangte dasselbe, was einen Streit um die Idee zwischen den Parteien auslöste. Die SPÖ forderte einen staatlichen Schadenersatz-Vorschuss für Opfer.

Es kann durchaus sinnvoll sein, wenn sich Medien und Politik derart intensiv um ein Verbrechensopfer kümmern, meinen Psychologen. Etwa, wenn es darum geht, eine öffentliche Debatte in Gang zu bekommen. Jedoch kann "das Breit-Treten in den Medien auch dazu führen, dass die Opfer traumatisierende Erlebnisse verdrängen", sagt der Psychotherapeut Andreas Mauerer vom Kinderschutz-Verein "Die Möwe". Wenn der Medienrummel nachlässt, "fällt das Opfer in ein Loch." Das große Interesse an Kampusch erklärt er damit, dass "wir uns anderer Menschen bedienen, um von eigenen Unzulänglichkeiten abzulenken".

Ganzger sieht das weniger drastisch: "Spektakuläre Ereignisse haben immer großes Interesse mit sich gebracht, damit müssen wir leben." Eine Art Selbstzensur der Medien hält er aber für wünschenswert: "Es müsste ein internes Gremium geben, das mehr Funktionen hat als ein Salzamt."

Klar ist auch: Wenn man die Medien einmal im Wohnzimmer hat, wird man sie nicht mehr los. Ganz Österreich weiß, wo Kampusch wählen war und wie sie Weihnachten verbracht hat - in einer "News"-Umfrage wurde sie zur beliebtesten Österreicherin nach Bundespräsident Heinz Fischer gewählt.

+++ Interview mit dem Psychiater Richard Haller"WienerZeitung" (kats): Was macht scheinbar normale Menschen wie Wolfgang Priklopil zu Verbrechern?Reinhard Haller: In jedem Menschen ruht ein Verbrecher. Es ist eine Frage der Umstände und der lebensgeschichtlichen Belastung, ob diese Anteile zu Tage treten.

Können Sie sich Priklopils Motive erklären?

Generell sind Entführer Menschen, die schöpferische Macht ausüben wollen. Meist haben sie eine narzisstische Störung. Priklopil muss gemütsarm gewesen sein, sonst hätte er das einem Kind nicht antun können. Er war sicher nicht nur böse - Menschen sind nie nur schlecht oder nur gut.

Was halten Sie von Täterdatenbanken wie in den USA?

Ich kann verstehen, dass man gerne wüsste, wenn ein Verbrecher in der Nachbarschaft wohnt, aber so etwas verunmöglicht langfristige Integration. Manche Täter darf man aber einfach nie wieder auf die Menschheit loslassen.

Reinhard Haller ist stv. Vorstand des Instituts für Suchtforschung in Innsbruck und war Gerichtsgutachter in den Fällen Jack Unterweger und Franz Fuchs.