Die Kreml-Partei "Einiges Russland" hat die Wahlen gewonnen. Es mehren sich Hinweise auf Wahlfälschungen.
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Moskau - Es ist ein ungemütlicher Tag in Moskau. Die Wolken hängen tief, die Thermometer-Anzeige ist auf neun Grad Celsius gesunken. Ein schneidender Wind fährt durch die prachtvollen Prospekte. Die Moskauer haben ihre Wintermäntel und Mützen ausgepackt, um dem schneidenden Wind zu trotzen.
Das ungemütliche Herbstwetter allein sei aber nicht schuld, dass viele ihrer Freunde heute zuhause bleiben, sagt Raissa, eine junge Frau im karierten Wintermantel. "Viele unserer Freunde, die oppositionell eingestellt sind, bleiben heute zu Hause". "Sie denken, dass es niemanden gibt, für den es sich lohnt, abzustimmen", mischt sich ihr Mann Alexander ins Gespräch. "Die meisten glauben nicht mehr daran, dass man mit Wahlen etwas ändern kann."
111 Millionen Russen durften wählen
Am Sonntag waren 111 Millionen Russen zu den Wahlurnen aufgerufen, um ein neues Parlament zu wählen. Die Kremlpartei Einiges Russland gewann sie wie erwartet und stellt im neuen russischen Parlament mehr als drei Viertel aller Abgeordneten. Die Partei kommt auf 343 der 450 Mandate. Dem vorläufigen Ergebnis nach kommen die Kommunisten auf 42 Sitze, die nationalistischen Liberaldemokraten auf 41 und die Partei Gerechtes Russland auf 21.
Die Parteien Rodina und Bürgerplattform sowie ein unabhängiger Kandidat errangen je ein Direktmandat. Die Wahlbeteiligung war mit 47,81 Prozent historisch niedrig. Bei den vergangenen Parlamentswahlen hatte die Wahlbeteiligung jeweils rund 50 Prozent betragen.
Doch Raissa und Alexander haben abgestimmt. Bunte Luftballone wehen im Herbstwind, hier, vor dem Wahllokal 50 im Zentrum Moskaus. "Wir halten es für unabdingbar, unsere Position auszudrücken", erklärt Raissa. So wie sie, waren viele ihrer Freunde selbst als Wahlbeobachter bei den vergangenen Parlamentswahlen 2011 vor Ort. In der "weißen Revolution" ging die 33-Jährige mit zehntausenden anderen Moskauern auf die Straße, um gegen Wahlfälschung zu protestieren. Doch heute ist die Protestbewegung erlahmt. Ein Like auf Facebook für einen oppositionellen Kandidaten sei das eine, der Gang zum Wahllokal das andere, sagt Raissa. "Aber wir müssen trotzdem unsere Position vertreten!" Sie selbst haben für die Oppositionspartei "Jabloko" und Maria Baronowa, eine ehemalige Anführerin der "Weißen Revolution", die jetzt für ein Direktmandat antritt, gestimmt.
Kein großer Wählerandrang
Auch im Wahllokal 50 ist es derweil ruhig. Es ist 13:00, aber von einem großem Andrang kann keine Rede sein. Rund 2500 Wähler sind hier registriert, sagt der Wahlleiter. "Alles unter Kontrolle", kommentiert er einsilbig. Um neun Uhr in der Früh sei allerdings plötzlich eine Gruppe von 40 Arbeitern im Wahllokal aufgetaucht, erinnert sich derweil Galina Kudrin, eine rüstige Pensionistin, die für die Oppositionspartei "Parnas" die Wahlen beobachtet. Mit so genannten "Abwesenheitsscheinen", einem Dokument, mit denen sie – ähnlich einer Briefwahl - auch fern der Wahllokale ihrer Heimatorte abstimmen können. Dass viele dieser Gruppen in Bussen zu den Wahllokalen gebracht werden, nährt den Verdacht, dass es sich dabei um organisierte Abstimmungstouren, so genannten "Karusselle", gehandelt haben könnte. Dabei werden Wähler von Wahllokal zu Wahllokal gekarrt, um mehrmals abzustimmen.
Einige Kilometer weiter im Süden, nahe der berühmten Moskauer Tretjakowskaja-Galerie, steht Maria vor dem Wahllokal 40 und zückt ihr Handy. "Sehen Sie diese Schlange?" fragt sie und zeigt auf ihr Handy-Display. "Da sind bestimmt 50 Leute in der Schlange gestanden", beschwört die 40-Jährige. Im Gespräch hätte ihr eine Frau aus dieser Gruppe gestanden, dass sie – aus dem Moskauer Umland kommend – gezwungen worden seien, für die Regierungspartei "Einiges Russland" abzustimmen. "In dieser Größenordnung habe ich diese 'Karusselle' noch nicht gesehen!" beteuert die Juristin, die gerade selbst abgestimmt hat.
Die Schilderungen passen ins Bild, die auch die Bürgerrechtsbewegung "Golos", zu deutsch "Stimme für ehrliche Wahlen", in ersten Stellungnahmen vom Wahltag zeichnet: "Die Karusselle und Mehrfacheinwürfe (mehrere Wahlzettel, die von einer Person eingeworfen werden, Anm.) sind die häufigsten Verstöße, die unsere Wahlbeobachter melden", so der Co-Vorsitzende Grigorij Melkonjanz in einem aktuellen Briefing. "Moskau liegt laut unseren Daten dabei russlandweit an erster Stelle." Aus manchen Wahllokalen im Moskauer Zentrum meldeten Wahlbeobachter, dass bis zu ein Drittel der gesamten Stimmen über so genannte "Abwesenheitsscheine" erfolgt sein sollen.
Doch auch aus den anderen Landesteilen werden Verstöße gemeldet. Ein Überwachungsvideo aus dem südrussischen Rostow am Don zeigt etwa, wie eine Frau – vermutlich ein Mitglied der Wahlkommission – zahlreiche Wahlzettel in die Wahlrune wirft. Vor allem bei der Mobilisierung für die Regierungspartei "Einiges Russland" ist der Fantasie dabei keine Grenzen gesetzt: So soll den Wählern in Nowosibirsk drei Liter Bier angeboten worden sein, wenn sie für den Kandidaten der Regierungspartei "Einiges Russland" abstimmen, berichtet zumindest die "Kommunistische Partei". Mit den Wahlfälschungen von 2011 sei der heutige Wahltag dennoch nicht vergleichbar, so ein Vertreter von Golos: Im Jahr 2011, als Tausende Großstädter gegen Wahlfälschungen auf die Straße gingen, hatte die Organisation bis zum frühen Abend bereits 7800 Verstöße registriert – fast vier Mal mehr, als heute.
Einer der wenigen, der an diesem Tag positiv in die Zukunft blickt, ist Igor Salnikow. Salnikow, ein stämmiger Mitt-Fünfziger, ist Direktor einer Schule im Moskauer Stadtzentrum und sitzt für die Regierungspartei "Einiges Russland" im Bezirksrat. Auch er hat gerade im Wahllokal 50 abgestimmt. Dass "Einiges Russland" heute gewinnen wird, daran hat er keinen Zweifel. Das sei nun mal die "aussichtsreichte Partei", die "auf Worte Taten folgen lässt".