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"Die meisten sind nicht gegen Putin"

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

Der russische Innenpolitik-Experte Andrej Kolesnikow über die Demonstrationen im Land und Alexej Nawalnys Chancen.


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Den 12. Juni, Russlands Nationalfeiertag, will Alexej Nawalny zum Tag gegen Korruption umfunktionieren. Er soll an die Demonstrationen vom März anknüpfen. Damals gingen Zehntausende in ganz Russland auf die Straßen, nachdem Nawalny ein Video über vermeintliche Reichtümer von Premier Dimitri Medwedjew veröffentlicht hatte. Kurze Zeit später regte sich in Moskau Widerstand gegen die Pläne von Bürgermeister Sergej Sobjanin, 5000 Plattenbauten abzureißen. Strohfeuer - oder dauerhaftes Aufbegehren?

"Wiener Zeitung": Zuletzt hat es in Moskau recht unerwartet große Proteste gegeben. Glauben die Russen wieder daran, dass der Druck der Straße etwas verändern kann?

Andrej Kolesnikow: Dass sich der Nawalny-Protest geografisch über Moskau hinaus ausgebreitet hat, ist bemerkenswert. Die Proteste unterscheiden sich aber deutlich: Die Anti-Korruptions-Proteste sind aus meiner Sicht ähnlich wie die Proteste, die es 2011/12 gegeben hat (gegen Wahlfälschungen nach den Parlamentswahlen, Anm.). Die Leute reagieren nicht in erster Linie auf die Politik, sondern auf Ungerechtigkeit und Betrug. Die Proteste gegen das Moskauer Bauprogramm sind hingegen eher pragmatisch, um das eigene Haus oder den eigenen Innenhof zu schützen. Es ist noch nicht klar, ob sich diese Proteste wirklich in etwas Politisches verwandeln werden.

Sie haben das "die Souveränität des Hinterhofs" genannt. Ist das nicht auch eine Art Politisierung?

Schon, aber nicht direkt. Die Leute sagen: Dort sind die Machthaber, aber hier ist meine Wohnung, mein Innenhof. Das ist mein souveränes Territorium, da möchte ich das Sagen haben. Wenn das bedroht ist, werde ich Widerstand leisten und kämpfen.

Denken Sie, dass die Proteste den Machthabern vor den Präsidentschaftswahlen im März 2018 und den Bürgermeisterwahlen gefährlich werden können?

Es ist unwahrscheinlich, dass die Proteste so lange anhalten werden. Die meisten Leute, die protestieren, sind ja nicht gegen Putin, sondern für eine Lösung eines konkreten Problems. Im Gegenteil: Putin ist sogar eher eine Instanz, die sie anrufen. Zugleich sehen wir aber auch, dass viele Leute in die Kommunalpolitik einsteigen. Die Leute spüren, dass die Macht nicht nur ganz oben, sondern auch unten ist. Das ist eine neue Erscheinung.

In ganz Russland haben zuletzt soziale Proteste zugenommen, seien es Streiks von Arbeitern oder Lkw-Fahrern. Oft geht es um knappe Ressourcen. Haben die Proteste mit der Wirtschaftskrise zu tun?

Natürlich geht es da immer wieder um Geld. Aber hier sehe ich vor allem das Phänomen, das ich die "Taubheit der Macht" nennen möchte: Die Politik ist nicht fähig, hinzuhören, was die Gesellschaft will. Deswegen sind diese Proteste für den Moskauer Bürgermeister auch völlig unerwartet gekommen. Die Unzufriedenheit im ganzen Land ist wie eine Glut, die immer lodert und ab und zu aufflammt. Dann wird die Flamme schnell und meist erfolgreich gelöscht, mit Repression und Propaganda. Um die Glut vollständig zu tilgen, braucht man aber eine stabile Wirtschaft und Wachstum. Das gibt es derzeit aber nicht, und ist auch nicht in Sicht.

Werden die Proteste zunehmen?

Ich denke ja. Das bedeutet jetzt natürlich nicht, dass die Machthaber gleich morgen anfangen, eine Demokratie aufzubauen. Zwischen dem Kreml und der Bevölkerung gab es seit Anfang der 2000er Jahre einen Vertrag: Euer Wohlstand wächst, dafür mischt ihr euch nicht in unsere Politik ein. Aber jetzt steigt das Bewusstsein der Bürger, die Steuern zahlen, und was bekomme ich dafür vom Staat? Gut, da ist die Krim, und vielleicht noch Syrien - aber man will doch auch ein gutes Leben haben. Und dadurch entsteht ein Misstrauen gegenüber dem Staat. Ob das auch zu einem Misstrauen gegen Putin führt, steht aber auf einem anderen Blatt.

Die Anti-Korruptions-Proteste haben sich ja vor allem gegen Premier Medwedjew gerichtet, nachdem Nawalny ein Video über dessen angebliche Reichtümer veröffentlicht hat. Über das Schicksal des Premiers wurde zuletzt viel spekuliert.

Das Video wurde 20 Millionen Mal angeklickt - das ist sehr, sehr viel. Medwedjew ist zum Sündenbock für das System geworden. Die Hoffnungen, dass er doch noch einmal Präsident wird, kann er hiermit begraben. Aber wenn Putin Medwedjew jetzt abberuft, sieht es so aus, als hätte Nawalny gewonnen. Deswegen wird Putin ihn nicht jetzt, aber vielleicht 2018 fallen lassen. Als schwacher Premier wirft er schon einen Schatten auf den Präsidenten.

Und Wladimir Putin?

Putin symbolisiert ein abstraktes, starkes Russland. Zugleich ist der Staat eine feindliche Kraft, für die man nicht Steuern zahlen möchte. Aber das hindert die Russen nicht daran, Putin in seiner Außenpolitik zu unterstützen. Vor allem die Krim hat viele Russen rund um Putin konsolidiert - eine Agenda aus Nationalismus, Imperialismus, Militarismus, Isolationismus. All diese "Ismen" sind mit der Krim wieder aktuell geworden.

Wieso hat gerade die Krim diese Prozesse befördert?

Das hat intuitiv bei vielen das diffuse Gefühl einer Supermacht reaktiviert. Da ist alles drinnen: die Bewunderung für Stalin, diese Begeisterung, ja fast pathetische Hysterie um den "Großen Vaterländischen Krieg"; das post-imperiale Syndrom in seiner Reinform. Es hat sich herausgestellt, dass die Sowjetunion immer noch zerfällt. Luhansk, Donezk, Abchasien - das sind alles Stücke, die aus dieser Konstruktion herausfallen.

Apropos Ukraine und Syrien: Sie haben einmal vom Krieg als "ständiges Hintergrundrauschen" in den russischen Medien gesprochen.

Der Krieg ist schon zur Routine geworden. Der Krieg mobilisiert. Putin verkauft die Angst an den Westen, und der Westen kauft diese Angst. Alle sprechen von einer möglichen Konfrontation mit der Nato. Das ist für den Kreml ein wichtiges konsolidierendes Element, diese äußere Bedrohung muss immer präsent sein.

Welche Themen erwarten Sie vor den Präsidentschaftswahlen?

Das ist noch nicht ganz klar. Der Kreml könnte sich zum Beispiel auf die inneren Feinde konzentrieren, auf den Kampf gegen die "fünfte Kolonne", da bietet sich Alexej Nawalny an. Er darf zwar nicht zu den Wahlen antreten, aber er sitzt auch nicht dauerhaft im Gefängnis. Die Herrschenden im Kreml brauchen nämlichen zumindest den Anschein einer politischen Konkurrenz. Aber ich denke, derzeit gibt es eine Nachdenkpause. Der Kreml ist selbst schon von dieser Hysterie müde geworden.

Andrej Kolesnikow ist Leiter der Abteilung für Innenpolitik und politische Institutionen im Carnegie Moscow Center. Der Jurist war zuvor Chefredakteur der "Nowaja Gaseta".