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Die Melodie der Hoffnung

Von Antonia Zemp

Gastkommentare

Das Massengrab im Mittelmeer wird immer größer. Noch immer schauen wir weg.


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"Es tut mir so leid, ich wollte dir nur ein besseres Leben ermöglichen . . ." Wenn das an Bord unseres Rettungsschiffs "Dignity 1" Jacob zu seinem verstorbenen acht Monate alten Sohn Habu sagt, dann ist das nur eine von vielen menschlichen Tragödien, die sich hier auf dem Mittelmeer abspielen. Jacob hat auf dem lebensgefährlichen Fluchtweg über das Mittelmeer drei seiner Kinder, seine Frau, seinen Bruder, seine Schwägerin und seine Nichte verloren. Seinen Sohn Habu und seine sechsjährige Nichte konnten wir nur noch tot aus dem Wasser holen; von ihnen konnte sich Jacob wenigstens in Würde verabschieden. Die anderen Familienmitglieder blieben verschwunden, vom Meer verschluckt. Die kalten kleinen Körper zeigen überall Verbrennungen auf, weil sie im Salzwasser, das sich im Schlauchboot mit Benzin vermischt hat, gelegen sind. Sie sind gezeichnet vom Horror, den sie durchgemacht haben.

Frans hat seine Frau Juth verloren. Sie wurde mit kaum noch Lebenszeichen von uns an Bord gebracht. Die Wiederbelebungsmaßnahmen waren erfolglos. Es war zu spät. Auch Juth ist gezeichnet von Verbrennungen. Frans verabschiedet sich von ihr und verfällt in ein Delirium. Er redet pausenlos und erzählt Juth, wie gut sie für ihn war. Auch er entschuldigt sich bei ihr, Frans fühlt sich verantwortlich für ihren Tod: "Juth, ich werde nie mehr eine Frau finden wie dich . . ."

Zwei andere Patienten werden per Helikopter geborgen, bewusstlos und beinahe ertrunken. Von ihnen wissen wir nicht einmal die Namen.

Einen Tag nach der extrem schwierigen Rettung, bereits auf dem Weg nach Italien, geht die Tragödie weiter. Mohammed kann nicht mehr. Sein von einer chronischen Krankheit geschwächter Körper hat bereits zu viel durchgemacht und gibt auf. Er erleidet in unserem Spital einen Herzstillstand. Wir kämpfen um sein Leben zusammen mit dem medizinischen Team der italienischen Küstenwache, aber es ist zu spät. Seine Frau Constanz trauert um ihn. Wenigstens können wir ihr ein Foto von Mohammed geben, welches ihr hoffentlich beim Verarbeiten helfen wird. Es ist unglaublich berührend, wie zärtlich sie das Foto die ganze Überfahrt lang anschaut und festhält.

Am nächsten Tag müssen wir weiteren Menschen, die bei uns an Bord sind, die Hoffnung nehmen, dass ihre vermissten Familienmitglieder oder Freunde sicher auf einem anderen Rettungsschiff sind. Sie sind und bleiben verschwunden, tot auf dem Meeresgrund.

Wo bleibt das Recht auf Sicherheit?

Wir haben eine syrische Familie an Bord. Zum Glück haben sie niemanden verloren. Aber wie kann es sein, dass sie auf einem Weg flüchten müssen, der lebensgefährlich ist? Sie kommen aus einem Land, in dem ein brutaler Krieg herrscht, wir alle wissen davon, und sie müssen ihr Leben nochmals riskieren, um in Sicherheit zu sein. Wo bleibt das Recht auf Sicherheit?

Auch Jacob, Habu, Frans, Juth, Mohammed und Constanz fliehen vor dem Elend. Sie riskieren nicht ihr Leben, weil sie es einfach ein bisschen besser haben wollen. Sondern sie fliehen davor, nicht zu wissen, wie sie ihre Familie ernähren sollen, sie fliehen vor Zwangsheirat, Vergewaltigung, Zwangsrekrutierung, Folterung, Diskriminierung, Verletzung der Menschenrechte.

Die Tragödie im Mittelmeer ist nichts Neues - und noch immer ist keine politische Lösung in Sicht. Wir sind unseren Mitmenschen einen sicheren und legalen Fluchtweg schuldig. Sie haben sich ihre Lage nicht ausgesucht. Wir würden an ihrer Stelle genauso handeln. Ich selbst war nur Zuschauerin der Tragödie, unsere Passagiere aber sind mittendrin. Anhand meiner Gefühle kann ich nur im Kleinsten erahnen, wie es ihnen geht.

Die Ankunft in Sizilien verläuft diesmal ohne die Melodie der Hoffnung. Unsere Passagiere sind noch zu mitgenommen, um zu singen und zu klatschen. Ich hoffe, ich kann bald ich wieder darüber berichten, wie schön es sich anhört, wenn die Melodie der Hoffnung über die Meeresoberfläche hallt. Für Habu, Juth, Mohammed und die anderen mehr als 4200 Menschen, die ihr Leben im Mittelmeer verloren haben.

Im Jahr 2016 haben insgesamt 327.800 Menschen auf der Flucht nach Europa das Mittelmeer überquert. "Ärzte ohne Grenzen" konnte seit April 18.000 Flüchtlinge retten. Allein heuer sind allerdings bereits mehr als 4200 Menschen im Mittelmeer ertrunken.