Zum Hauptinhalt springen

"Die Menschen haben einfach genug"

Von Ronald Schönhuber

Politik

Der Politologe Daniel Levy erklärt Netanjahus Absturz in der Wählergunst und warnt vor übertriebenen Erwartungen in seine Gegner.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wiener Zeitung":Wenn man in Europa an Israel denkt, denkt man immer auch an den Palästinenser-Konflikt. Im israelischen Wahlkampf hat das nur im Finale eine Rolle gespielt, davor aber kaum.Daniel Levy: Egal, ob das nun stimmt oder nicht - unter den Israelis hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass man in Bezug auf den Konflikt eigentlich nichts tun kann. Also wird der Fokus eher auf Dinge gelegt, die man verändern kann, als auf solche, die man nicht verändern kann. Allerdings hat das Thema in diesem Wahlkampf eine wesentlich größere Rolle gespielt als bei den letzten Wahlen vor zwei Jahren. Da war der Konflikt völlig absent. Diesmal gab es zwar keine Diskussion darüber, was denn die Lösung im Konflikt ist. Aber es gab eine Debatte über das internationale Standing Israels und das Image des Landes. Und das ist natürlich stark verbunden mit der Palästinenser-Frage. Während Premier Benjamin Netanjahu in diesem Zusammenhang die Kosten der bisherigen Politik verteidigt, sehen die Mitte-Links-Parteien um Isaac Herzog und Tzipi Livni die Notwendigkeit eines kompletten Neustarts der internationalen Beziehungen.

Wird sich an der israelischen Palästina-Politik tatsächlich etwas verändern, falls Isaac Herzog nach der Wahl Netanjahu als Premierminister ablöst?

Ich glaube, es wird den sofortigen Wunsch geben, der Welt ein vernunftbetonteres Gesicht Israels zu zeigen. Die Frage ist allerdings, ob dieser Wunsch so stark ist, dass es auch konkrete Veränderungen im Verhältnis zu den Palästinensern gibt. Und das lässt sich für mich derzeit noch nicht beantworten. Klar ist aber schon, dass Herzog sich der Siedler-Bewegung weniger verpflichtet fühlt und dass das für eine Regierung unter seiner Führung keine große Rolle spielen wird. Allerdings muss man ganz klar sagen, dass ein eventueller Sieg Herzogs ein Sieg der "Alle außer Netanjahu"-Bewegung ist. Dementsprechend müsste man also viel eher von einer Abwahl Netanjahus, als von einem Votum für den Frieden sprechen. Um den Frieden tatsächlich voranzutreiben, bräuchte es wohl einen internationalen Zugang, der Herzog auf seine Seite zieht, ihn gleichzeitig aber auch in die Pflicht nimmt. Wenn die internationale Gemeinschaft sich ausschließlich darauf verlässt, dass jetzt ein sich vernünftig anhörender Mann den Premiersposten inne hat, dann wird der Frieden weiter in die Ferne rücken. Das haben wir in der Vergangenheit ja schon mehrmals erlebt.

Wie lässt sich denn Herzogs Verhältnis zur Arabischen Welt beschreiben?

Herzog wird nachgesagt, dass er die jüngsten Veränderungen in der Arabischen Welt - etwa das bessere Verhältnis zu Ägypten unter dem neuen Machthaber Abdel Fattah al-Sisi - nutzen will, um in der Palästina-Frage voranzukommen. Allerdings hat Herzog in diesem Bereich noch nicht eindeutig Stellung bezogen. Und es gab auch immer wieder einige Kommentare, die nicht hilfreich waren.

Die Sicherheitsfrage scheint die Israelis auch nicht mehr so stark zu bewegen wie in der Vergangenheit.

Für die Wähler waren etwa der Iran und der Atomstreit niemals ein großes Thema. Das war ganz eindeutig etwas, das die Führung aufs Tapet gebracht hat, um Angst zu erzeugen. Und man war damit nicht unbedingt erfolgreich. Meiner Ansicht nach hat Netanjahu den Bogen ganz einfach überspannt. Die israelische Öffentlichkeit hat genug von den privaten Skandälchen rund um Netanjahus Familie, die israelische Öffentlichkeit hat genug von den Selbstdarstellungsversuchen des Premiers auf dem internationalen Parkett und die israelische Öffentlichkeit hat eben auch genug von der Taktik der Panikmache. Als etwa die Wohn- und Mietkrise virulent wurde, hat Netanjahu gemeint, die Wohnsituation sei zwar wichtig, aber um sich Gedanken über ein Dach über dem Kopf zu machen, müsse man zunächst am Leben sein. Und daher müsse man sich vor allem mit der existenziellen Bedrohung Israels durch den Iran beschäftigen. Allerdings ist auch hier noch etwas Interessantes passiert. Sehr viele hochrangige Mitarbeiter des israelischen Sicherheitsapparates haben sich in diesem Zusammenhang öffentlich gegen Netanjahu gewandt. Und zu guter Letzt hat Netanjahu auch keine Sicherheit gebracht. Wir haben alle gesehen, was im vergangenen Sommer in Gaza passiert ist.

Die umstrittene Rede Netanjahus vor dem US-Kongress, bei der er vor einem Atom-Deal mit dem Iran warnte, dürfte ihm also nur bedingt geholfen haben?

Das stimmt. Nach der Rede konnte Netanjahu in den Umfragen nur einen sehr kleinen Zugewinn verzeichnen und das nur für eine sehr kurze Zeit. Die Israelis kaufen ihm nicht ab, dass es bei der Wahl um den Iran geht.

Ist Netanjahus Absturz in den Umfragen auch Ausdruck eines Generationenwechsels? Ist da jetzt eine neue Generation, die sich, anders als ihre Eltern, mehr um soziale Sicherheit als um nationale Sicherheit sorgt?

Israel hat ja bereits vor vier Jahren große Sozialproteste erlebt, was sich aber nicht auf das nachfolgende Wahlergebnis ausgewirkt hat. Nichtsdestotrotz ist die Mittelklasse stark unter Druck. Und es gibt die Phänomene der "working poor" und der wachsenden Ungleichheit auch in Israel. Doch falls Netanjahu verlieren sollte, hat es wohl mehr damit zu tun, dass die Menschen der Meinung sind, er habe seine Zeit an der Macht überzogen. Und anders als beim letzten Mal gibt es diesmal noch einen Faktor: Jemand aus dem Likud verlässt die Partei, und schafft eine eigene Bewegung, in der ich mich als Likud-Wähler sehr gut aufgehoben fühle und die ich ohne Bedenken wählen kann. Die Gründung der Zentrumspartei Kulanu durch Ex-Minister Moshe Kahlon könnte tatsächlich der Todesstoß für Netanjahu gewesen sein.

Zur Person

Daniel

Levy

ist der Direktor für den Nahen Osten und Nordafrika beim European Council on Foreign Relations (ECFR) in London. Der Politikwissenschafter hat auch mehrere Jahre als Berater für die israelische Regierung gearbeitet.