Der österreichische Europapolitiker Michel Reimon hat den Nordirak besucht.
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Weiterhin sind im Nordirak mehrere zehntausende Jesiden, eine religiöse Minderheit unter den Kurden, auf der Flucht vor der radikal-islamischen Terror-Organisation Islamischer Staat (IS, vormals Isis). Sie flohen in den 60 Kilometer langen Gebirgszug Daschabal Sinjar. Ihre Lage ist denkbar dramatisch. Viele der Flüchtlinge - der Zentralrat der Jesiden in Deutschland gibt die Zahl der Geflohenen mit 40.000 an, unter ihnen viele Kinder - sind wegen der Strapazen bei hohen Temperaturen in dem kargen Landstrich bereits gestorben, wie Angehörige der religiösen Minderheit berichteten. Nach unbestätigten Berichten wurden zuvor von den IS-Milizen hunderte Jesiden getötet. Teils sollen sie lebendig begraben worden sein.
Der IS hat den Gebirgszug eingekesselt und soll weiter vorrücken. In der Nacht zum Montag warf die US-Luftwaffe erneut Hilfsgüter ab, darunter 74.000 Essensrationen und über 50.000 Liter Trinkwasser. Die Jesiden hoffen auf Rettung durch die kurdische Regionalregierung. Aber auch die USA erwägen nun, Flüchtlinge in Sicherheit zu bringen.
"Wiener Zeitung": Sie waren gerade in Sinjar auf dem Heiligen Berg der Jesiden, wo die verfolgte Gruppe vom IS eingekesselt ist. Wie sind die Bedingungen?Michel Reimon: Es hat 40 bis 45 Grad, auf diesen Bergen gibt es keine Quellen und kaum Schatten. IS hat den Berg umstellt, der Landweg ist versperrt, Hubschrauber werden beschossen. Gestern bin ich mit der Luftbrücke geflogen, das sind vier Helikopter, die pro Einsatz in Summe etwa 100 Leute retten können und ein paar Paletten Wasser liefern. Sie haben auch das allererste Medizinerteam mitgenommen, fünf Freiwillige, die auf dem Berg bleiben. Bei 50.000 bis 100.000 Eingekesselten ist das viel zu wenig.
Wie kann eine weitere Katastrophe verhindert werden, was wird dagegen unternommen?
Die Peschmerga, die Kämpfer der kurdischen Regionalregierung, bilden die erste Frontlinie und tragen die Hauptlast der Kämpfe. Sie wirken in den letzten Tagen wieder etwas zuversichtlicher.
Wegen der unterstützenden Luftangriffe der USA? Haben diese etwas ausrichten können, um die Dschihadisten zu stoppen?
Schwierig zu sagen. Nach den ersten Luftschlägen sah es so aus, aber die IS-Truppen sind immer noch in der Offensive.
Könnten Bodentruppen der USA die humanitäre Katastrophe verhindern?
In Sinjar verdursten die Menschen im Sekundentakt. Das ist eine virtuelle Diskussion in westlichen Medien. Die Truppen wären nicht schnell genug hier.
Das heißt, jede Hilfe kommt zu spät?
Es wird wohl auf die Peschmerga ankommen. Aber die Kurden müssen über eine 1000 Kilometer lange Front die Bevölkerung verteidigen - während der IS punktuell zuschlägt und Massaker begeht. Ich kann das nicht abschätzen.
Wie ist der Kontakt zur Außenwelt - hat der IS auch Kontrolle über Netzwerkanbieter und wie ist die Internetanbindung?
Als ich ankam, war Facebook gesperrt, dann auch gleich Twitter. Die Flüchtlinge haben die Plattformen verwendet, um sich zu finden und zu treffen, aber dabei haben sie auch militärisch wichtige Informationen an die IS-Truppen verraten. Seit gestern ist mein Handy ohne Netz, andere gehen aber.
Welche Bilanz können Sie über Ihre Reise ziehen?
Eine Sache macht Hoffnung: Die vielen Volksgruppen hier kämpfen seit Jahren, durch die gemeinsame Bedrohung sind sie jetzt aufeinander angewiesen. Jemand hat zu mir gesagt: "Wir schauen voller Bewunderung nach Europa, eure Völker haben sich auch Jahrhunderte bekriegt und leben jetzt in Frieden. Der Irak kann das auch." Also sollte Europa da aktiv mithelfen.
Michel Reimon ist Abgeordneter für das Europäische Parlament. Im Oktober übernimmt der Grün-Politiker den Posten als Delegierter für den Arabischen Raum.