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Die mit den Wölfen tanzen

Von Eva Stanzl

Wissen

Seit zehn Jahren werden am Wolfsforschungszentrum Ernstbrunn erstaunliche Fähigkeiten von Wölfen und Hunden erforscht.


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Dem Wolf verdankt der Mensch seinen besten Freund. Dennoch wurde er in Mitteleuropa ab dem 15. Jahrhundert systematisch verfolgt. Kaum ein Tier kommt in Mythen, Fabeln und Märchen so schlecht davon wie der Wolf. Von Grimms Rotkäppchen über die sieben Geißlein bis zu Baron Isegrim verkörpert er Übermacht, Rücksichtslosigkeit und Gewalt, Ingrimm und Bösartigkeit, aber auch Tölpelhaftigkeit, weshalb es Reineke Fuchs immer wieder gelingt, ihn hineinzulegen. Von Canis lupus’ fabelhaftem Charakter hält die Verhaltensforscherin Friederike Range nicht viel. "Ich war an Wölfen interessiert, weil sie so intensiv miteinander kooperieren. Auch wollte ich wissen, wie viel sie selbst darüber verstehen, und wo die Unterschiede zum Hund liegen", schildert die Leiterin des Wolfsforschungszentrums (Wolf Science Center, WSC) in Ernstbrunn die Motive für ihre Arbeit.

Seit nunmehr zehn Jahren wird im niederösterreichischen Weinviertel in den 40 Kilometer nordöstlich von Wien gelegenen Schlossgärten Ernstbrunn Wolfsforschung betrieben. Man will die sozialen und geistigen Fähigkeiten von Wölfen und Hunden ergründen und den Gemeinsamkeiten zwischen dem größten Raubtier aus der Familie der Hunde, seinem domestizierten Cousin und dem Menschen nachgehen. Das Zentrum habe sich "zu einer international anerkannten Forschungsinstitution entwickelt, wir sind weltweit einmalig", zieht Range Bilanz.

Hunde als Zwischenwesen

Im Jahr 2008 begannen die Verhaltensforscherin und ihre Kollegen Kurt Kotrschal und Zsofia Viranyi mit der Arbeit. "Irgendwann nach ihrem PhD zum Kooperationsverhalten von Affen stand Friederike Range in der Tür meines Büros der Konrad Lorenz Forschungsstelle (KLF) in Grünau und erzählte mir, was sie längerfristig machen wollte. Aber ich hatte natürlich keine Wölfe", berichtet KLF-Leiter Kotrschal. "Also holten wir vier Welpen aus dem Tierpark Herber-
stein, die wir in einem adaptierten Gehege im Wildpark Grünau im Almtal großzogen. Da wir dort keine stabilen Verhältnisse aufbauen konnten, nahmen wir das Angebot von Heinrich XIV Reuss aus Ernstbrunn gerne an." Im Mai 2009 wurden die vier jungen Wölfe übersiedelt, um sich den Wildpark Ernstbrunn mit Schafen, Ziegen, Eseln, Ponys, Gämsen, Steinböcken und Hühnern zu teilen.

Innerhalb von zwei Jahren standen 15.000 Quadratmeter Wolfsgehege sowie Büro- und Wohnräume. Das Forschungsteam zieht die Rudel mit der Hand auf. Die Forschenden leben im Areal und sind Partner der Tiere. Trainerinnen und Trainer beschäftigen die Wölfe täglich. Auf 20.000 Quadratmetern leben heute in Rudeln von bis zu vier Tieren elf Hunde und 15 amerikanische Grauwölfe, die Menschen gegenüber weniger scheu sind als ihre europäischen Artgenossen. "Wir sind das einzige Zentrum, das diesen direkten Vergleich zwischen Wölfen und Hunden anstellen kann", sagt Kotrschal.

Vor der Ausbreitung des Homo sapiens und der Entwicklung der Landwirtschaft war der Wolf das am weitesten verbreitete Landsäugetier. Warum halten wir seit 40.000 Jahren domestizierte Wölfe? Welcher Art ist die Partnerschaft zwischen Mensch und Hund? Lange nahmen Wissenschafter an, Hunde seien die netteren, kooperativeren Wölfe. Die WSC-Forscher aber würden sagen: Es kommt stets darauf an, wer mit wem kooperiert.

Wölfe kooperieren intensiv

Unser bester Freund hat sich so weit an uns angepasst, dass es ihm zum Bedürfnis geworden ist, mit uns zusammenzuarbeiten, wobei durchaus in Züchtungen unterwürfige Exemplare ausgewählt wurden, um Konflikte zu vermeiden. "Hunde entwickelten eine hohe soziale Intelligenz in Relation zum Menschen. Sie spüren, wenn wir sie ungerecht behandeln, können uns austricksen und Emotionen lesen. Hunde sind Zwischenwesen, in weiten Bereichen ticken sie menschlich, 35.000 Jahre sind eine lange Zeit", erklärt Kotrschal. Ihre sozialen Fähigkeiten reichen sogar so weit, dass sie lernen können, Krankheiten wie Diabetes oder Krebs zu erschnüffeln oder Kinder mit Konzentrationsschwächen in Schulklassen zu beruhigen. "Zweifelsohne besitzen Wölfe dieselben sensorischen Fähigkeiten, jedoch setzen sie sie anders ein", sagt der Verhaltensforscher. "Ob ein Hund zufrieden ist, hängt von den Führungsqualitäten des Menschen ab. Er stellt sich so stark auf seinen Halter ein, dass er sogar dessen Persönlichkeit und sozialen Stil spiegelt, und kooperiert nur in zweiter Linie mit Artgenossen."

In Bezug auf den Menschen zeigen sich Wölfe eigensinniger. "Sie haben starke Persönlichkeiten. Wenn sie wollen, können sie ebenso gut mit Menschen zusammenarbeiten wie Hunde, jedoch gehen sie dabei deutlich selbständiger vor", erläutert Range zu einer kürzlich erschienene Studie des WSC. Wölfe neigen dazu, bei Problemlösungen sich nicht Tipps vom Menschen zu holen, sondern die Führung zu übernehmen.

Langmütiger verhält sich Canis lupus im Zusammenleben mit anderen Wölfen, auch zumal sein Überleben von der Kooperation im Rudel abhängt. "Wölfe sind nicht nur kooperativ, sondern auch sehr tolerant insbesondere gegenüber Partnern, die sie gut kennen und gerne mögen. Sie arbeiten eher mit Artgenossen zusammen, mit denen sie gute Beziehungen haben", erläutert Range.

Könnte man sagen, Wölfe haben Freunde, schmieden so etwas wie Wolfsfreundschaften? "Das hängt davon ab, wie man Freundschaft definiert. Es ist sicher so, dass Wölfe enge Beziehungen knüpfen und pflegen", erklärt sie. In jedem Fall sei die gute Zusammenarbeit zwischen Hund und Mensch dem "Wolf im Hund" zu verdanken.

Wolfsbeziehungen

Ob dem Wolf dies bewusst ist, ist wenig erforscht. Range geht jedoch davon aus, dass Wölfe ein gewisses Selbstbewusstsein besitzen. "Sie treffen komplexe Entscheidungen unter Einbeziehung vieler Informationen und abhängig davon, mit wem sie arbeiten. Es gibt bei ihnen sicher einen Sinn für das Selbst", sagt die Forscherin. Ob Wölfe sich selbst im Spiegel erkennen, habe man zwar noch nicht getestet, "aber vielleicht sind das auch die falschen Tests".

Eine andere Herangehensweise wählte ein US-Team um Bridgett von Holdt von der Princeton University, indem es die Gene von 18 Haushunden und zehn Wölfen verglich. Auch diese Analysen zeigten, dass Wölfe hartnäckige und gute Problemlöser sind, während Hunde rasch Hilfe beim Menschen suchen. Von Holdt berichtetet, dass Hunde bestimmte Varianten zweier Gene in sich tragen, die beim Menschen das Williams-Beuren-Syndrom verursachen. Es zeichnet sich aus durch elfenhafte Gesichtszüge, kognitive Schwierigkeiten und eine Neigung, jeden zu lieben. Der Wolf besitzt diese genetischen Veränderungen nicht. Er kooperiert auf Augenhöhe.

"Der Wolf erweist sich als sehr intelligentes und soziales Tier", betont Range. Mehr als 50 Arbeiten, die in angesehenen Journalen veröffentlicht wurden, sind der bisherige wissenschaftliche Output des WSC. Der Weg bis hierher war nicht leicht. Um ihre Forschungsziele zu verwirklichen, gründeten die Wissenschafter einen Verein. "Dass wir die ersten Jahre überstanden haben, ohne in Konkurs zu gehen, ist schon eine ziemliche Errungenschaft", findet Kotrschal.

Rudelspaziergänge

Seit zwei Jahren gehört das Zentrum zum Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung der Veterinärmedizinischen Universität Wien, wo Range eine Professur für Domestikation innehat. Trotz der Uni-Verankerung ist das Team auf Drittmittel, Spenden und Sponsoren angewiesen. "Wir müssen so viel Geld verdienen, dass sich der Betrieb erhält", betont Kotrschal.

Besucherprogramme mit Führungen und Spaziergängen mit Wölfen ziehen ein wachsendes Publikum an. In ihrer Arbeit wollen sich die Forscher als Nächstes der Frage widmen, wie Hunde und Wölfe lernen, wie sie ihre Umwelt wahrnehmen und kausal verstehen und wie Hormone wie etwa das "Liebeshormon" Oxytocin bestimmte Verhaltensweisen der Tiere unterstützen.