Zum Hauptinhalt springen

Die Mitschuld der Davoser Eliten

Von Thomas Seifert aus Davos

Politik

Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze macht die Wirtschaftseliten für die "demokratische Rezession" mitverantwortlich.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wiener Zeitung": Es sieht im Moment nicht nach internationaler Kooperation aus. Jeder fährt die nationalen Egoismen, es gibt kein Win-win, sondern nur I win, you loose.

Adam Tooze: Die Situation ist ernst und sie geht über populistischen und protektionistischen Neigungen weit hinaus. Die Spannungen zwischen den USA und China bilden den Kern der derzeitigen Probleme. Das hat durchaus strategische und strukturelle Wurzeln. Das wird nicht nur von US-Präsident Donald Trump und dem Handelsbeauftragten Robert Lighthizer, also den ideologischen Vorkämpfern des Protektionismus und des wirtschaftlichen Nationalismus, getragen, sondern auch von einem großen Teil des derzeitigen außenpolitischen Establishment in Washington - und da sind auch durchaus große Teile der Demokratischen Partei mit dabei.

Worum es im Grunde geht, ist das aufkommende Gefühl, dass die neue Ausrichtung der Weltwirtschaft China Karten in die Hand spielt, die für Amerikas Sicherheitspolitik sehr bedeutsam sein könnten und den USA zum Nachteil gereichen. Da reißt die Geduld des amerikanischen Sicherheitsestablishments. Es kommen Forderungen vor allem im technischen Bereich - es geht also weniger um Zölle, sondern um den Versuch Amerikas, den Transfer strategisch wichtiger Technologien des Westens nach China zu unterbinden.

Auf einem Panel hier in Davos hat der chinesische Ökonom Yan Xuetong von einer "erzwungenen Polarisierung" gesprochen. Amerika würde seine Verbündeten und andere Länder vor die Wahl stellen: Entweder ihr seid auf unserer Seite, oder auf Seiten Chinas. Wie sehen Sie das?

Wir sind noch nicht ganz auf der Ebene der Iran-Sanktionen, wo die USA das ganz dezidiert so halten, aber wir bewegen uns in diese Richtung, wenn etwa Kanada aufgefordert wird, eine führende chinesische Unternehmerin festzunehmen und an die USA auszuliefern - vorgeblich wegen des Verdachts des Verstoßes gegen die Iran-Sanktionen. Eine weitere Eskalation der Spannungen zwischen den USA und China könnte durchaus explosiven Charakter annehmen.

Vor allem geht es auch darum, dass die Prioritäten in Amerika neu gesetzt werden. Viele Unternehmungen - aber auch Unis, da denke ich auch an die Institution, an der ich lehre - haben auf eine Intensivierung der Beziehungen zu China gesetzt. Bisher hatten viele die Vorstellung einer möglichst engmaschigen Beziehung zu China - und das durchaus im produktiven Sinne. Da war sogar die Rede von "Chimerica", die zu siamesischen Zwillingen werden könnten. Jetzt sehen wir aber eine Entkopplung, die auch die Trennung zwischen Wirtschafts- und Sicherheitspolitik in Frage stellt.

Kann man die Hinwendung Donald Trumps zu Russland in diesem Sinne verstehen, also als eine Art umgekehrter Nixon-Strategie: US-Präsident Richard Nixon ging auf Drängen seines Sicherheitsberaters Henry Kissinger auf China zu, um die Sowjets in Asien zu isolieren. Man verbündet sich mit dem schwachen einstigen Gegner gegen den starken Gegner. Der starke Gegner wäre jetzt China, der schwache Russland.

Das wäre naheliegend. Das ist aber keine plausible Erklärung dafür, was in den letzten Jahren geschehen ist. Gerade bei den Demokraten ist es ja so, dass sie Russland mittlerweile als Erzfeind betrachten. Viele Zentristen innerhalb der Demokratischen Partei werfen Russland ja vor, die Wahl zum Vorteil Trumps manipuliert zu haben. Im Moment sind wir in einer Situation der chaotischen Desintegration der amerikanischen Politik. Man sollte also nicht davon ausgehen, dass es aus strategischen Interessen, die mit China zu tun haben, zu einer Entspannung mit Russland kommt - eher im Gegenteil. Somit ist es wenig plausibel, dass die Außenpolitik in den USA so eine Triangulation, wie Kissinger sie vielleicht im Sinne hätte, anstrebt. Zudem hat Russland eine derartige Politik mit dem Abenteuer in der Ukraine verunmöglicht.

Putin ist außerdem den USA bereits zuvorgekommen, indem er im Jahr 2014 die Bewegung hin zu China vollzogen hat. Damals wurde ein großer Gasdeal unterzeichnet, und es wurde eine Menge Infrastruktur im Osten ausgebaut, was für die Russen nicht billig war. Moskau hat also in die Beziehung zu Peking ungeheuer investiert und ist uns in gewisser Weise in dieser Beziehung voraus. Für Europa stellen sich viele Fragen: Allein aus Wettbewerbsgründen werden die Europäer sich auch überlegen müssen, ob sie nicht die Schotten dichtmachen müssen. Die Chinesen sind im Umgang mit geistigem Eigentum ja nicht gerade zimperlich. Die Europäer haben wie die Amerikaner die Erfahrung gemacht, dass sich da im Verhandlungsweg wenig bewegen lässt.

Das politische Chaos in den USA und die damit einhergehenden Verwerfungen auf globaler Ebene haben bis dato relativ wenig Einfluss auf die Weltwirtschaft. Warum?

Die Steuersenkungen haben wie eine Zuckerration für die US-Wirtschaft gewirkt. Nach so einer Energiespritze fühlt man sich immer munter. Wobei dazu zu sagen ist, dass dieser Energieschub gar nicht notwendig gewesen wäre - die Wirtschaft lief ohnehin prima. Aber die Steuervergünstigungen laufen erst mal aus. Jetzt haben wir mit dem Regierungs-Shutdown eine historisch einmalige Situation, die ebenfalls auf die Wirtschaft durchschlagen wird. Die Frage ist, wie die Unternehmererwartung auf die zunehmende Verunsicherung reagieren wird. Wenn die Manager vorsichtiger werden, dann wäre das das Zeichen für eine nachhaltige Verlangsamung des Wachstums.

Apple hat auf seine bisher starke Abhängigkeit von China reagiert und baut Produktionskapazitäten in Indien auf. Irgendwo müssen die iPhones ja herkommen. Warum sie sich gerade Indien ausgesucht haben, kann ich mir nicht so recht erklären. Indien ist ja nicht gerade ein Hort der Stabilität. Die Verschärfung des Hindu-Nationalismus ist beängstigend. Wenn wir von demokratischer Erosion sprechen, von einer Wende hin zu autoritärer Politik, dann ist Indien dafür ein klassischer Fall. Die säkularen Impulse der Kongresspartei, zu der die Gründerväter und -mütter Indiens zählten, verschwinden zunehmend. Nach dem Willen von Premierminister Narendra Modi und seiner Bharatiya Janata Partei soll Indien zu Hindustan umgebaut werden.

Wird die demokratische Rezession, die man von Indien über Brasilien, den Philippinen, Ungarn, Polen bis hin zu den USA beobachten kann, weiter fortschreiten?

In Davos gibt es nicht wenige Gesprächspartner, die sich wünschen, dass, wenn sie morgen aufwachen, wieder alles so ist wie vor zehn Jahren. Das kann ich gut nachvollziehen. Aber was diese Leute unterschätzen, ist, dass die Freiräume, in denen diese Politik des Populismus, des Irrationalismus floriert, zu einem erheblichen Teil von der Davos-Politik - wenn ich das so nennen darf - freigeräumt worden sind. Der Marktfundamentalismus, die Zurückdrängung von Gewerkschaften und Sozialdemokratie, die Zerschlagung der Arbeiterbewegung mit ihrer bildenden Funktion in der Gesellschaft haben diese Entwicklung ja erst ermöglicht. Auch der katholisch oder protestantisch fundierte christdemokratische Konservativismus hatte diese bildende Funktion, die in den konservativen Parteien heute kaum mehr eine Rolle spielt.

Diese aus dem 19. Jahrhundert vererbten Institutionen einer komplexen, vielgliedrigen integrativen Politik sind durch Prozesse der Kommodifizierung, des Marktes - aber auch durch eine gezielte Schwächung der Arbeiterbewegung - massiv untergraben worden. Da sollte man sich nichts vormachen und sich nicht wundern, dass die Qualität der Demokratie nicht mehr die ist, die sie mal war. Früher haben sich Sozialdemokraten und Christdemokraten nicht gefragt: Was sagen die Umfragen, was passiert in den Fokusgruppen? - sondern sie haben sich gefragt: Wo stehen wir, wo wollen wir hin und wie vermitteln wir diesen Weg von A nach B? Was müssen wir den Menschen vermitteln, damit sie unsere Perspektiven und Ziele verstehen? Nicht von oben herab, sondern durch eine komplexe politische Pädagogik. Und das ist uns seit den 1980ern abhandengekommen.

Die Einzigen, die ihren Antonio Gramsci (italienischer kommunistischer Denker, der unter anderem über das Konzept der kulturellen Hegemonie nachgedacht hat, Anm.) gelesen haben und wissen, dass man eine konter-hegemoniale Politik gegen die Werte des politischen Zentrums betreiben muss, das einfach nicht so strategisch dachte, sind die US-Republikaner. An dieser Entwicklung trägt der Homo davosiensis eine gewisse Mittäterschaft. Diese Verantwortung muss man dem hier in Davos versammelten Volk schon anlasten.