Der Soziologe Oliver Nachtwey über das "neue" Label der SPÖ als Mitte-Partei und die moderne Arbeiterbewegung.
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Wien. Gesellschaftlicher Aufstieg? Das war einmal, sagt der deutsche Soziologe Oliver Nachtwey. In der Nachkriegszeit wuchs die Wirtschaft, die materielle Ungleichheit nahm ab. Es gab zwar auch Arm und Reich, aber mittels Sozialstaat und konstantem Wachstum ging es für alle aufwärts. Für Nachtwey setzte der Umbruch mit dem Ölpreisschock Mitte der Siebzigerjahre ein. Der Wohlstand der Oberschichten wächst weiter, die Mittelschichten stagnieren, ihre unteren Teile steigen ab, die Unterschicht kippt aus der Gesellschaft. Dafür verantwortlich macht er nicht nur einen deregulierten Kapitalismus, sondern auch die Sozialdemokratie, die sich nur noch um jene kümmert, die einst den Aufstieg in die untere Mittelschicht schafften.
"Wiener Zeitung": Herr Nachtwey, jede Partei will die Mittelschicht erreichen. Jeder zählt sich dazu. Dieser Umstand allein macht mich skeptisch. Können Sie mir sagen, von wem hier die Rede ist?
Oliver Nachtwey: Die Mittelschicht ist ein sehr ausladender Begriff. Und zwar weil er sich nicht nur an den Einkommen (Das Wirtschaftsforschungsinstitut definiert die Mittelschicht nach dem Haushaltseinkommen. Sie verläuft in einem Einkommensband von 1360 netto und 2900 Euro monatlich.) orientiert, sondern auch an den Berufen. Da ist von der Supermarktverkäuferin bis zum hoch qualifizierten Mitarbeiter im Management in Großbetrieben alles dabei.
Die Mittelschicht eint also nichts?
Man kann zumindest nicht von "der" Mitte sprechen, dafür ist sie zu heterogen. Aber es gibt Teile in der Mittelschicht, die Vorstellungen der Lebensführung miteinander teilen. Etwa das Erreichen eines gewissen Grads an Bildung, Diszipliniertheit, eine schöne Wohnung, ein entsprechendes Auto. Die Mitte ist politisch aber nicht geeint ansprechbar. Das ist der Irrtum, dem alle europäischen Parteien der Mitte unterliegen. Es gibt die Theorie des Medianwählers, die besagt, dass Wahlen allein in der Mitte gewonnen werden. Heute fokussieren sich die Parteien auf Fokusgruppen, die jeweils einen spezifischen Ausschnitt der Mitte darstellen, aber für die Verallgemeinerung über "die" Mitte nicht taugen. Das hat zur Folge, dass Politiker sehr unterschiedliche und für die jeweilige Schicht oft widersprüchliche Ansprachen machen.
Wenn es die politische Arbeit nicht erleichtert, woher kommt diese Umarmung der Mittelschicht?
Diese Entwicklung hat einen Grund: den Aufstieg der alten Arbeiterschaft in die untere Mittelschicht. Viele Arbeiter fühlten sich nicht mehr als Teil der Klasse. In der Folge hat die Sozialdemokratie vor allem auf diese neuen Mittelklassen fokussiert. Der frühere deutsche Kanzler Gerhard Schröder ging mit "Die neue Mitte" in eine Wahl - und gewann. Vergessen wurden die Verlierer der Globalisierung. Der politische Diskurs heute leidet an einer Untererzählung über die sozial Schwachen.
Inwiefern?
Arbeiter sind aus dem politischen Diskurs weitestgehend verschwunden, da man sie als Verlierer ansah, die ohnehin nicht mehr entscheidend für Machtgewinn und Machterhalt sind. Viele Leute, die selbst keine Verlierer sind, haben Vorbehalte, sich mit den Verlieren zu identifizieren. In unserer Gesellschaft möchte man immer zu den Gewinnern, zu den Starken gehören. Viele Parteien machen deshalb nur noch wenige Angebote für die unteren Klassen. Die fehlende Ansprache führt auf der anderen Seite dazu, dass die sozial Schwachen immer seltener wählen gehen. Auch die Sozialdemokratie geht immer weniger auf diese Leute zu, weil sie als Wählergruppe nicht mehr die frühere Bedeutung hat. Deshalb die zu kurz gedachte Antwort: Die Mitte geht wählen, für die machen wir Angebote.
In Österreich inszeniert sich die SPÖ nun als Mitte-Partei. Der Kanzler trägt dafür Pizza aus. Parteiintern fragt man sich, ob man die Arbeiter verrät. Was würden Sie antworten?
Verrat ist kein Wort, das ich benutzen würde. Aber es ist zumindest in Europa so, dass sich die Sozialdemokratie immer weiter von ihren Wurzeln der alten Arbeiterschaft entfernt hat. Auf Basis ihrer früheren Erfolge, dass Menschen durch ihre Politik aufsteigen konnten, hat sie mit dem Fokus auf die Mitte ihren eigenen Niedergang produziert. Das Feld der unteren Klassen hat die Sozialdemokratie den Rechtspopulisten überlassen.
Der Politologe Anton Pelinka sagt schon länger, die SPÖ solle sich nur noch auf die Mittelschichten fokussieren, nicht auf sozial Schwächere, die nach rechts abgewandert sind.
Die Einschätzung halte ich für fatal. Gerade durch die Abstiegsprozesse und neuen Ungleichheiten wird die Bedeutung der Klasse für die Sozialstruktur als auch für die Politik wieder zunehmen. Die Sozialdemokratie kann nur an Stärke gewinnen, wenn sie es wieder schafft, ein Bündnis aus Unterschicht und Mitte zu bilden. Für die Mitte wie für die Unterklasse geht es um soziale Sicherheit und Gerechtigkeit. Wenn die Sozialdemokratie die Unterschicht aufgibt, dann kann sie als Partei aufgeben. Dann ist sie überflüssig.
Kanzler Christian Kern meint, die SPÖ müsse ihre alten Dogmen aufgeben. Sie sind ein Verfechter der Klasse. Die Gesellschaft ist heute heterogener als im 20. Jahrhundert. Ist das nicht ein wenig antiquiert?
Wenn man sich Klasse vorstellt mit weißen, alten Männern im Blaumann, dann ist es berechtigt, den Gedanken aufzugeben. Das war aber ohnehin immer ein Klischee der Klasse selbst. Klasse ist etwas anderes - ein ökonomisches, soziales und politisches Verhältnis. Es geht um Würde, Teilhabe und Einfluss. Insofern ist der Klassenbegriff wieder sehr aktuell. Man müsste ihn jedoch besser an die modernen Gesellschaftsverhältnisse anpassen: Man denke an die prekären Jobs im Dienstleistungsbereich, im Reinigungsgewerbe, im Servicebereich oder in der Industrie. Klassenlagen kehren in die Sozialstrukturen zurück: bislang werden sie leider nur von den Rechtspopulisten in völkischer Verdrehung artikuliert.
Sie schreiben selbst von sozialen Kämpfen zwischen Mittel- und Unterschicht. Wie soll daraus eine geeinte Bewegung entstehen?
Als Karl Marx "Das Kapital" geschrieben hat, waren die Mehrheit der Arbeiter keine Fabrikarbeiter, sondern Handwerker und Hausangestellte. In der frühen SPD und den deutschen Gewerkschaften im 19. Jahrhundert haben Handwerker ebenfalls eine bedeutende Rolle gespielt. Die Arbeiterbewegung war schon immer heterogen. Was sie verbunden hat, waren gemeinsame Kämpfe und eine immer wieder hergestellte Kultur der Solidarität. Die Schwierigkeiten des Lebens in der Unterklasse zu teilen und politisch wie auch kulturell zu bearbeiten, war zentral. Diese Kultur schafft man nicht, wenn man nur sagt: "Wir sind alle Mittelschicht" und Pizza austeilt.
Das erklärt nicht, warum die beiden Schichten zusammenarbeiten sollten. Die untere Mitte grenzt sich bewusst von den sozial Schwachen ab.
Die untere Mittelschicht erfährt vermehrt Abstiege. Jeder von uns kennt die Schicksale, aus der Familie oder dem Betrieb. In einigen Fabriken der deutschen Automobilindustrie arbeiten 30 Prozent Leiharbeiter. Zu sehen, dass jemand für die gleiche Arbeit deutlich weniger verdient, schafft Abstiegsängste. Die Aufsteiger wollen sich gerade in Krisenzeiten mit der Sicherung ihres Wohlstands beschäftigen. Da bleibt wenig Platz für Solidarität. Auch, wenn nicht jeder absteigt, die Mitte versucht, Grenzen nach unten zu setzen, damit niemand mehr hochkommt oder abrutscht. Das macht die Mitte indem sie früh in die Bildung und Status ihrer Kinder investiert. Die Kinder lernen früh Fremdsprachen oder spielen Instrumente. Eltern wechseln auch oft die Stadtteile, wenn in der Klasse ihrer Kinder viele Migranten oder Arbeiterkinder sitzen. Diese Leute wollen sich auch habituell von unten absetzen und machen die Lebensgewohnheiten der Unterklasse schlecht. Das erzeugt Wut. Auch das führt zum Aufstieg der Rechten.
Das klingt nicht sehr versöhnlich.
Einerseits. Aber in Teilen der Mittelschicht und Unterklasse gibt es andererseits auch ein großes Bedürfnis nach Solidarität. In Deutschland kommt es zu neuen Arbeitskämpfen. Bei Amazon seit mehreren Jahren, geführt von der Unterklasse. Ebenso kam es bei den Erzieherinnen, die noch zur unteren Mittelschicht gehören, zu den größten Streikbewegungen in den letzten Jahren. Was fehlt, sind verbindende Akteure.
Den heutigen Akteuren fehlt meist der Bezug zur Unterschicht, sagt der Soziologe Didier Eribon.
Durch den Aufstieg haben viele Parteiaktivisten keine sozialen Erfahrungen mehr aus der Arbeiterschicht, die heute kein rotes, emanzipatorisches Proletariat ist. Dort gibt es Xenophobie und viel Machotum. Damit tut sich die alternative Linke schwer, die zwar diese Leute sozial befreien will, wenn es aber zum Kontakt kommt, wendet sie sich erschrocken ab. Sie hält sich für moralisch überlegen, weil sie weniger sexistisch oder rassistisch ist. Das ist die linke Distinktion gegenüber der Unterklasse.