Die Tiergärten haben im Lauf der Zeiten mehrmals ihr Selbstverständnis und ihre Aufgabenstellungen geändert. Heute gehört die Arterhaltung zu ihren wichtigsten Pflichten.
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Als der Schweizer Zoologe Heini Hediger 1942 mitten im Zweiten Weltkrieg der Tiergärtnerei mit seinem Buch "Wildtiere in Gefangenschaft" erstmals ein wissenschaftliches Fundament gab, standen vier Grundprinzipien im Vordergrund: eine biologisch begründete Tierhaltung, die Erholung des Besuchers, Bildung für ein breites, der Natur zunehmend entfremdetes Publikum und Forschung. Der Gedanke an Natur- und Artenschutz war zu dieser Zeit noch kaum vorhanden.
Die "Menagerien"
Dabei repräsentierte der Wurf des Zürcher Zoodirektors bereits eine fortentwickelte Idee des Zoologischen Gartens. Die erste Einrichtung, die diesen Namen im eigentlichen Sinn verdiente, war die habsburgische Menagerie, die Maria Theresias Gemahl Franz I. vor nunmehr 260 Jahren in Schönbrunn ins Leben gerufen hatte. Gut vierzig Jahre darauf - bald nach der Französischen Revolution - folgte 1794 die Ménagerie du Jardin des Plantes in Paris. Der Regent’s Park in London schließlich eröffnete 1828 den Reigen der zahlreichen Zoogründungen eines vom bürgerlichen Geist geprägten Zeitalters.
Äußerlich behielten die jungen Institutionen den Charakter der Menagerie bei, die vorzugsweise je ein oder zwei "Stücke" einer Spezies zu Schau stellte. Doch gleichzeitig sollten es möglichst viele Tierarten sein, die die einzelnen Tiergärten beherbergten. Denn darin lag ihr Stolz. Ganz anders heute! Enthielten etwa die Sammlungen der bedeutenden Tiergärten noch vor dreißig Jahren nahezu unfehlbar (fast) sämtliche Großkatzenarten vom Löwen bis zum Puma, konzentrieren sich heute selbst die größten Kollektionen auf wenige Arten, zum Beispiel Tiger, Jaguar und Gepard. Dafür werden diese gezielt ausgewählten Vertreter vorzugsweise in rassereinen Zuchtpaaren oder Zuchtgruppen gehalten. So kann man gegenwärtig etwa in Wien, Köln oder Zürich Sibirische Tiger bestaunen; der traditionsreiche Frankfurter Zoo pflegt und züchtet die deutlich kleinere, aber ebenfalls hochbedrohte Rasse aus Sumatra, und der kleine Zoo in Halle tut das Gleiche mit der malaiischen Unterart. Parallel zu solch formenreiner Perfektion besteht heute die Forderung nach einer attraktiven Kulisse, die die Bedürfnisse der lebenden Schauobjekte befriedigt. Ja mehr noch: die Gehege-Gestaltung soll den natürlichen Lebensraum der jeweiligen Art näherungsweise simulieren.
Aufwändige Projekte
Als Ergebnis dieses Strebens entstanden Millionensummen verschlingende Projekte, wie kürzlich das Leipziger Gondwanaland oder der Bogori-Wald in Frankfurt, der knapp einen Hektar messende Versuch eines Tropenwald-Imitats. Im monumentalen Pongoland des Leipziger Zoos ist es sogar möglich, in "affenwürdigem" Fluidum Gruppen aller vier Menschenaffenarten zu präsentieren - natürlich in reinrassiger Besetzung.
Der Weg vom bürgergetragenen Zoologischen Garten des 19. Jahrhunderts mit volksbildnerischem Anspruch bis zur Arten erhaltenden Arche unserer Tage verlief freilich nicht geradlinig. Ein entscheidender Einschnitt bildete 1907 Carl Hagenbecks Erfindung gitterloser Freianlagen. Als dessen neuer Tierpark in Hamburg-Stellingen die Pforten öffnete, sahen sich die zahlenden Besucher erstmals wilden, mitunter gefährlichen Tieren ohne Sichtbehinderung gegenüber. An die Stelle hermetisch gesicherter Zwinger traten großzügig wirkende Freianlagen: Löwen räkelten sich auf kargem, afrikanisch imaginiertem Boden; vor ihnen besiedelten Huftiere die nachempfundene Savanne. Daneben reckte sich ein Kunstfelsen über Robben und Eisbären, den arktischen Erzfeinden, rund 50 Meter in den Himmel. Namen wie "Löwenschlucht" und "Nordland-Panorama" gaukelten Freiheit vor.
Trotz des verführerischen Charmes war die Stellinger Version des Zoologischen Gartens äußerst umstritten, insbesondere unter Hagenbecks Kollegen. Der ehemalige Zirkusdirektor galt in ihrem Kreis als Parvenü. Vieles an den Neuerungen entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als Scheinlösung. Absperrgräben ersetzten die rigiden Eisenstäbe; indes blieb der den Tieren zur Verfügung stehende Raum weiterhin begrenzt. Aber beim Publikum kam die elegante Täuschung an - und der Erfolg reizte weltweit zur Nachahmung.
Streit um Tierrechte
Der Ruf des Zoos als eines "Gefängnisses der Tiere" soll heute getilgt werden. Schließlich sind - so die moderne Auffassung - die vermeintlichen Exponate in Wahrheit lebende Subjekte mit eigener Identität. Ja, mittlerweile formulieren Tierschützer bereits einen Rechtsanspruch für Tiere und rütteln damit an dem bisher unangefochtenen Rechtsverständnis. Als Exponenten dieser Position taten und tun sich der bekannte australische Philosoph Peter Singer und Tom Regan aus den USA hervor. Sie sind gewissermaßen der Partyschreck all jener, die beruflich mit lebenden Tieren zu tun haben. Insgesamt geht vom Lager der "Tierschützer" heutzutage die mächtigste Opposition gegen die aus ihrem Blickwinkel anthropozentrische Institution Zoo aus.
Erst nachdem sich der von den Hagenbecks angestoßene Paradigmenwechsel in der tiergärtnerischen Praxis zumindest als erklärtes Prinzip durchgesetzt hatte, proklamierte Heini Hediger die auch theoretisch untermauerte Tiergartenbiologie. Damit fanden die Erkenntnisse der noch jungfräulichen vergleichenden Verhaltensforschung Eingang in das Zoo-Konzept. Begriffe wie Territorium, Flucht- und Individualdistanz und soziale Rangordnung wurden zu Größen der tiergärtnerischer Überlegung und entsprechenden Planens. Die neue Sichtweise maß dem Tier neben Besucher und Pfleger den gleichen Stellenwert bei. Die Frucht dieses Ansatzes zeigte sich bald: Unter den tierfreundlicheren Bedingungen schritten archaisch-sensible Nashörner, heikle Gorillas, fragile Giraffengazellen zur Fortpflanzung.
Dann war es noch einmal der Schweizer Zoodirektor Hediger, der die Zoologischen Gärten in Europa und in Übersee in die Moderne katapultierte. Sein 1965 publiziertes Werk "Mensch und Tier im Zoo" lässt sich mit Fug und Recht als Magna Charta der Tiergartenbiologie bezeichnen. Die Vorstellung vom Zoo als Arche wurde dadurch konkret.
Die Weiterentwicklung des Ernährungsangebots, der Fortschritt in der Tiermedizin und die Ausgestaltung der Unterkünfte in Richtung artgemäßer Ansprüche leiteten die Ära gezielter Gemeinschaftsprogramme ein, die bedrohte Tierformen vor dem Aussterben bewahren sollten.
"Operation Oryx"
Anfangs blieben solche Versuche der Initiative engagierter Vorreiter in einzelnen Tierhaltungen überlassen. Die erste Aktion dieser Art galt der Arabischen Oryx, einer prächtigen, weißen Wüstenantilope und einem ebenso beliebten Jagdobjekt. Die elegante Spezies schien unmittelbar vor dem Untergang. In der "Operation Oryx" unternahm die britische "Fauna Preservation Society" einen letzten Anlauf, sie zu retten. Während zwei Jägertrupps noch 61 Antilopen erlegten, fingen die Naturschützer lediglich vier lebende Individuen. Weitere Artgenossen erbettelte, kaufte und sammelte man mühsam von Scheich Jaber aus Kuwait, König Saud und dem Londoner Zoo zusammen. In den Zoos von Los Angeles und Phoenix im heißen Arizona kamen die Wüstentiere unter. Ganze 13 Ausgangstiere standen für das "Weltherde-Projekt" zur Verfügung. So abenteuerlich das Unternehmen begonnen hatte, so fulminant verlief das Vermehrungsprogramm. Jahre später konnte die Antilope in ihre Wüstenheimat zurückkehren. Mittlerweile gehört sie auf der Arabischen Halbinsel von Jordanien bis in den Oman wieder zur Fauna.
Das enorme Bevölkerungswachstum, der damit einhergehende Verlust natürlicher Lebensräume und die Umweltzerstörung beschleunigten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Rückgang der Tierpopulationen drastisch. Beispielsweise verschwanden vier der neun Unterarten des Tigers in den letzten Jahrzehnten für immer von unserem Planeten. Ihr völlig unterschiedliches Aussehen wird für die Nachwelt nie mehr unmittelbar erlebbar sein. Neuerdings verschärft der Klimawandel die kritische Situation der Wildnisreste und ihrer Bewohner.
Als Folge dieser Zuspitzung sahen sich die Tiergärten spätestens seit Mitte der siebziger Jahre zu einer Überprüfung und Pointierung ihres Selbstverständnisses gezwungen, wollten sie in der öffentlichen Wahrnehmung ernst genommen werden. Zudem hatte etwa zur gleichen Zeit die Welle der Safari- und Erlebnisparkgründungen bei vielen Menschen eine Erwartungshaltung erzeugt, die sich an äußeren, oft oberflächlichen Effekten orientierte. Vor allem aber verführte sie zu einem gefährlich-naiven Scheinverständnis von der Natur. Kurzum: Die Zuschauerschaft zweifelte zunehmend an der Daseinsberechtigung der Bildungsstätte Zoo.
Die offizielle Antwort bestand in der Agenda der "Welt-Zoo-Naturschutzstrategie" von 1993. Rund 1200 anerkannte zoologische Einrichtungen standen zu diesem Zeitpunkt auf der Habenseite. Doch das Projekt, in großem Stil Zuchtprogramme für die einzelnen Arten zu entwickeln und unter Beteiligung vieler Tiergärten Zuchtbücher zu führen, wirkte in Anbetracht des globalen Schreckensszenarios geradezu vermessen. Zigtausende von Wirbeltierformen befinden sich kurz vor dem Verlöschen, vom Heer der Wirbellosen ganz zu schweigen. So wird jeder Tierpark für das weltweite Rettungsunternehmen benötigt.
Naturschutz vor Ort
Ein hervorragendes Beispiel ist der europäische Nerz, ein fast überall verschwundener Marder. Direkte Verfolgung und Habitatverlust gereichten dem begehrten Pelzträger fast überall zum Verhängnis. In Deutschland wurden die letzten frei lebenden Exemplare 1925 gesichtet. Die ultimative Bedrohung verdankt der wasserliebende, gut schwimmende Marder ironischerweise aggressiven Tierschützern, die den verwandten, leicht züchtbaren amerikanischstämmigen Mink in Mengen aus Pelztierfarmen befreien. Dem fremden Konkurrenten ist der etwas schwächere Europäer unterlegen. In der Aktion "Euronerz" haben sich vor einigen Jahren Nerzforscher und etliche, hauptsächlich kleine Tierparks zusammengeschlossen, um ihr schwer halt- und züchtbares Wappentier zu vermehren. Zusätzlich betreibt die Interessengemeinschaft eine eigene Verpaarungsstation für die untereinander äußerst aggressiven Tiere. Kürzlich begannen die ersten Auswilderungsversuche in geeigneten Feuchtgebieten Deutschlands.
Das Beispiel zeigt: Neben der Tierhaltung sowie der Bildungs- und Aufklärungstätigkeit macht im 21. Jahrhundert die Unterstützung für den Naturschutz vor Ort, (die Erhaltung fortpflanzungsfähiger Populationen "in situ") die zentrale Aufgabe der Zoos aus.
Demgegenüber bezeichnen die auf die Tiergärten begrenzten Zuchtprogramme den Artenschutz "ex situ". Hunderte bedrohter Tierarten sollen auf diese Weise eine Perspektive zum Überleben erhalten. Vornehmlich ist die Vermehrung in Menschenobhut als Überbrückung gedacht, bis - so die Hoffnung - die Menschheit gelernt hat, mit den Ökosystemen ökologisch verträglich umzugehen.
Gegenwärtig managen die Tiergärten 195 internationale und 1350 regionale Zuchtbücher. Zu Gebote stehen ihnen die neuen digitalen Möglichkeiten. Genetische Verarmung und Inzucht werden so vermieden. Ihr virtuelles Werkzeug ist das internationale Arten-Informationssystem ISIS. Das digitale Management bedingt regen Austausch, sprich eine rege Reisetätigkeit der Tiere, zwischen den beteiligten Einrichtungen. Während Mutter Tiger in Frankfurt ihren Nachwuchs aufzieht, erledigt ihr Gatte die nächste Zeugungspflicht in Warschau - Effizienz ist schließlich gefordert!
Für die Tiergärten zählt nicht mehr der Besitz eines bestimmten Tieres oder irgendwelcher Arten per se. Vielmehr entscheidet über ihre Qualität, wie vielen Zuchtprogrammen sie angehören und für welche Zuchtbücher sie die Verantwortung tragen. Darin liegt der neue Stolz der Besitzlosen. Gleichzeitig heißt es freilich, sofern die Mittel reichen, der Spaßgesellschaft oder Eventkultur mit gefällig-pompösen Panoramen (siehe Hagenbeck) Genüge zu tun.
Rund 600 Tier- und Vogelparks und Aquarienhäuser gibt es allein im deutschsprachigen Raum, etwa 400 in Großbritannien. Manche Tiergärten führen bereits vor, wie man sich den erweiterten Herausforderungen erfolgreich stellen kann. Wahre Giganten sind die beiden Zoos im kalifornischen San Diego und die Wildlife Conservation Society. Sie unterhält fünf der sechs New Yorker Tiergärten und entsendet Dutzende Wissenschafter für Schutz- und Forschungsprojekte in die entlegensten Ecken der Erde. Europäische "Flaggschiffe" siedeln in Jersey, London, Chester und Frankfurt. Das Ökosystem Serengeti wäre ohne die Frankurter Zoogesellschaft längst ausgelöscht - und dank ihrer Initiative fliegt auch der Bartgeier wieder in unseren Alpen.
Walter Sontag, geboren 1951, ist Zoologe und schreibt als freier Autor über biologische, kulturelle Themen; lebt in Wien.