Vor 150 Jahren erzählte der Schriftsteller von einer fiktiven Reise ins All: Ein Faktencheck seiner Science-Fiction-Vorarbeit mit der späteren Wirklichkeit.
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Im Jahr 1865, nur wenige Monate nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs, erschien zunächst Jules Vernes Roman "Von der Erde zum Mond". Angesichts des bevorstehenden "unfruchtbaren" Friedens fürchten US-Artillerieexperten darin um den Weiterbestand ihres Gun-Clubs. Doch dessen kaltblütiger Präsident Impey Barbicane hält sie beschäftigt: Er lässt eine neuartige Riesenkanone konstruieren, die erstmals ein Projektil auf den Mond abfeuern soll. In diesem finden schließlich drei Menschen Platz: der zu allem entschlossene Barbicane selbst, der tollkühne Abenteurer Michel Ardan und der eher phlegmatische Kapitän Nicholl.
Nahe Tampa, Florida, wird ein gigantischer, 270 Meter tiefer Kanonenschacht in die Erde gegraben und mit Schießbaumwolle gefüllt. Der Abschuss gelingt. Mit Hilfe eines Riesenteleskops glaubt man Tage später, die bemannte Aluminiumkapsel zu erspähen: Sie hat den Mond verfehlt und wird ihn, so scheint es, auf ewig umkreisen.
Der 41-jährige Verne, mittlerweile für die Schilderung von außergewöhnlichen fiktiven Reisen bekannt, lässt dem trostlos endenden Roman 1869, also vor 150 Jahren, eine Fortsetzung folgen. "Die Reise um den Mond" erscheint zwischen dem 4. November und dem 8. Dezember - als Vorabdruck im "Journal des Débats". Nach einer kurzen Rückschau versetzt der Franzose seine Leser jetzt ins erwähnte Projektil hinein, lässt sie gleichsam mitfliegen. Die Kanone zündet am Abend des 1. Dezember. Bald blicken die drei uns schon bekannten Männer auf die Erde zurück und sehen einen "funkelnden Strauß von Sternschnuppen. Hunderte von Boliden, die beim Eintritt in die Atmosphäre verglühten, durchzogen das Dunkel mit Lichtstreifen".
"Quasisatelliten"
In Wahrheit hätte keine Konstruktion der Welt die tödlichen Beschleunigungskräfte abgefedert, die beim Abschuss eines solchen Projektils auftreten. Die Männer wären mit dem Zigtausendfachen ihres Körpergewichts zu Boden gedrückt worden. Sternschnuppen hätten sie sehen können. Auch der Apollo-Astronaut David Scott beobachtete 1969 solche "Streifen" von der Erdumlaufbahn aus: "Sie waren so fein, dass uns anfangs nicht klar war, um was es sich handelte."
Das Trio ist 8100 Kilometer von der Erde entfernt, als ein Kleinplanet vorbeischießt. Für Verne ist das ein "zweiter Erdmond". Der Toulouser Sternwartedirektor Frédéric Petit hatte 1846 geglaubt, einen solchen Trabanten entdeckt zu haben. Wie man heute weiß, kreisen manche Kleinplaneten zeitweilig in einer sehr ähnlichen Umlaufbahn wie die Erde um die Sonne. Dem 40 bis 100 Meter durchmessenden Kleinplaneten Kamo’oalewa gelingt dies laut Bahnrechnungen seit fast einem Jahrhundert. Ein anderer verabschiedete sich hingegen schon nach einem Jahrzehnt. Solche koorbitalen Objekte werden oft "Quasisatelliten" genannt.
Außerdem fängt unser Planet, Modellen zufolge, etwa alle zehn Jahre einen Kleinplaneten von Pkw-Größe ein. Der umkreist uns dann wie ein Mond, allerdings auf einer langgestreckten Ellipsenbahn. Die Anziehungskraft der Sonne entreißt uns den Minitrabanten bald wieder. Einen wirklich dauerhaften Zweitmond besitzt die Erde nicht.
Zwei mitgeführte Hunde sollen sich mit Monddoggen paaren oder ein lunares Hundegeschlecht gründen: Doch nur die Hündin Diana (ihr Name stammt ganz offensichtlich von der römischen Mondgöttin) überlebt den brutalen Startvorgang. Der Rüde Trabant (slawisch: Begleiter) verendet und wird im All entsorgt. Sein Kadaver verfolgt die Kapsel fortan als "Hundegespenst". Die Astronauten der unglücklichen Apollo-13-Mission erlebten 1970 Ähnliches: Nach der Explosion eines Sauerstofftanks wurden sie von einer Wolke ausgetretenen Gases begleitet. Sie störte sogar die Navigation.
Die Reisenden spüren die Bewegung ihres antriebslosen Projektils nicht - da hat Verne recht. Die Schwerelosigkeit erfahren sie nur an jenem "neutralen Punkt", an dem die Anziehungskräfte von Erde und Mond einander aufheben. Da irrt Verne: Raumfahrer sind im freien All immer schwerelos, sofern sie nicht gerade ein Triebwerk zünden.
Winzerfreuden
Dem Mond auf wenige Dutzend Kilometer nahe gekommen, studiert man seine Oberfläche. "Es ist eine riesige Schweiz, ein ununterbrochenes Norwegen", schreibt Verne angesichts der von Gebirgen geprägten Landschaften. Er erzählt von der Kartierung der Mondoberfläche seit Galileis ersten Fernrohrbeobachtungen im Jahr 1609: Immerhin 50.000 Krater habe man seither im Teleskop ausgemacht. Verne erklärt, wie Teleskopbeobachter die Höhe der Mondberge abgeschätzt haben. Sie maßen dazu tatsächlich die Länge der Bergschatten oder die Dauer des lunaren Alpenglühens.
Jules Verne verbindet auch in diesem Mondflugroman Wissenschaft und Fiktion. Er ist somit ein Gründervater der Science- Fiction und nutzt das Genre, um den Lesern auf unterhaltsame Art Wissen einzuträufeln. Oft orientiert er sich am Urteil der zeitgenössischen Forscher.
Die drei Männer blicken auf "einen Haufen von Löchern, Kratern, Circussen" (lat. circus "Kreis", "Ring"). Im Roman sind die fast immer kreisförmig begrenzten Gebilde ausgebrannte Vulkane: Das entspricht dem damaligen Wissensstand. Wie man erst im 20. Jahrhundert erkennen wird, sind die Mondkrater ganz anders entstanden - nämlich durch den Einschlag unzähliger Kleinplaneten und Kometenkerne. Dabei wird die enorme Bewegungsenergie der Irrläufer explosionsartig in alle Richtungen freigesetzt: daher die kreisrunde Form der Einschlagsnarben.
Die Männer wollen auf dem Mond landen. Um den Aufprall zu lindern, sollen 20 kleine Raketen am Schiffsboden gezündet werden. Später setzen auch die realen Raumschiffe zum Abbremsen Raketen bzw. Raketentriebwerke ein, ausgerichtet gegen die Flugrichtung. Nach geglückter Landung würde der Mond zu einem Bundesstaat der USA erklärt (so etwas erlaubt das Völkerrecht heute zum Glück nicht). Sollte man Bewohner auf dem Mond antreffen, will man diese zivilisieren und bei ihnen eine Republik einführen.
Um die Mondlandschaften zu kultivieren, bringen die drei Kolonialisten Hacken und Schaufeln mit, Saatgut und junge Bäume. Angesichts glühend heißer "Mondweinberge" träumen sie von "feurigsten Weinen". Schon scheint es, als könnten sie den Mond mit Händen greifen. Doch die Anziehungskraft des anfangs passierten "Zweitmonds" hat das Gefährt vom Kurs abgebracht.
Es schießt über den Mondrand hinweg und erlaubt es den überraschten Passagieren, einen Blick auf die von der Erde aus nie sichtbare Mondrückseite zu werfen. Niemand weiß damals, wie sie aussieht. Auch Verne nicht. Wohl deshalb ist gerade Vollmond. Die erdabgewandte Mondseite liegt somit in finsterster Nacht. Um sie kurzzeitig zu erhellen, lässt Verne einen nahen, zwei Kilometer durchmessenden Kometen zerplatzen - wie eine Bombe. Im sekundenkurzen Widerschein der Explosion meinen die Männer, Wolken, wirkliche Meere und riesige dunkle Massen wie Waldungen auszumachen. Allerdings bleibt unklar, ob dies nicht bloß "Täuschung, Irrtum der Augen, ein optisches Blendwerk" ist.
Manche Kometen teilen sich tatsächlich und gewinnen dabei merklich an Helligkeit. Vernes übertriebene Kometenexplosion ist aber bloß ein Kunstgriff, um die Geschichte spannender zu machen. Wassergefüllte Ozeane, Wälder oder Wolkengebilde sucht man auf dem Mond vergeblich.
Aus gewagten Theorien schließt das Trio: In ferner Vergangenheit hätte der Mond eine dunstreiche Umhüllung besessen, und somit auch Gewässer und Vegetation, ja sogar Bewohner: "Denn die Natur vergeudet sich nicht unnütz." Erst beim Erkalten hätte ihm die Erde seine Atmosphäre entzogen. Nun sei er "eine erstorbene Welt".
Heldenverehrung
Tatsächlich besitzt der Erdmond zu wenig Masse und somit zu wenig Anziehungskraft, um eine nennenswerte Atmosphäre zu halten. Mangels entsprechendem Druck würde Eis im Sonnenlicht verdampfen, ohne sich zu verflüssigen. Weinreben oder andere Pflanzen gediehen nie auf dem Mond. Er ist steril.
Bald kehrt Vernes Gefährt wieder zur Mondvorderseite zurück und stürzt schlussendlich unaufhaltsam auf die Erde zu. Tage später erblicken Matrosen eines US-Marine-Schiffs im Pazifik eine Feuerkugel, die durch die Reibung mit der Luft in vollen Flammen steht. Sie versinkt tosend im Ozean. Eine aufwendige Suchaktion folgt: Als man bereits resigniert, entdeckt ein Matrose eine große Boje mit aufgepflanzter US-Flagge. Darin sitzen drei Männer und vertreiben sich die Zeit beim Dominospiel.
Tatsächlich hüllen sich alle aus dem All in die Lufthülle eintretenden Objekte "in Feuer", Meteorite ebenso wie Raumfahrzeuge. Die Atmosphäre bremst sie radikal ab. Die Schockfront vor dem dahinschießenden Eindringling heizt sich deshalb auf tausende Grad Celsius auf. Ein Raumschiff würde großteils schmelzen und verdampfen, also "verglühen" - ähnlich einer Sternschnuppe. Deshalb schützt man Raumkapseln mit einer speziellen Verkleidung, etwa aus Kunstharz: Sie kühlt beim Verdampfen. Vernes ungeschütztes Gefährt hätte verglühen müssen. Anderenfalls wäre es auf der Wasseroberfläche zerschellt.
In tieferen Luftschichten müssen nämlich Fallschirme die weitere Bremsarbeit leisten. Die russischen Sojus-Schiffe zünden kurz vor dem Aufprall am festen Boden zusätzlich noch kleine Bremsraketen. Die amerikanischen Mercury-, Gemini- und Apollo-Schiffe verzichteten auf diese. Sie wasserten im Ozean. Dort schwammen sie tatsächlich "wie Bojen". Allerdings schaukelten sie zu stark, um ans Dominospielen zu denken - oder ans Pokern.
Unbeschreiblicher Jubel erwartet die Romanfiguren nach deren Rettung. Sie reisen im Triumphzug durch die USA. Man verehrt sie wie Halbgötter. Auch diese Heldenverehrung sieht Verne ganz richtig voraus. In den USA waren die ersten wirklichen Astronauten schon vor ihrem Start Medienstars. In der UdSSR standen die Menschen nach der Landung Spalier, um den Kosmonauten zuzujubeln: Diese wurden zu Helden der Sowjetunion ernannt.
Christian Pinter, geboren 1959 in Wien, schreibt seit 1991 im "extra" regelmäßig über Astronomie und Raumfahrt. Im Internet: www.himmelszelt.at