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Schottland will im Falle seiner Unabhängigkeit die dort postierte britische Atomraketen-Flotte loswerden. London und Nato sind alles andere als verzückt.
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Faslane. Loch Ness ist nicht das einzige schottische Gewässer, in dem man lichtscheue Ungeheuer findet. Gare Loch, ein Fjord nordwestlich von Glasgow, birgt in seinen Tiefen gleich vier monströse Schattenwesen, die ruhelos durchs wässrige Dunkel ziehen. Allerdings lädt hier kein Touristen-Rummel zu Fototerminen und Bootstouren ein. Im Gegenteil, Besucher sind unerwünscht in dieser Gegend. Wer an Gare Loch mit der Kamera herumläuft, bekommt es schnell mit der Staatsmacht zu tun - und sieht sich von bewaffneten Polizisten umzingelt.
Riesige Stahlzäune mit ebenso mächtigen Stacheldraht-Rollen grenzen das Ufer des Lochs von der Uferstraße ab. Überwachungskameras auf hohen Pfosten verfolgen argwöhnisch jede Bewegung. Auf dem Wasser selbst kreuzen nervös kleine Patrouillen-Boote. Die ganze Region ist hermetisch abgeriegelt. Den Ungeheuern von Gare Loch kommt kein Unbefugter nahe. Und nicht nur das. Im Reiseatlas sucht man den Namen der geheimnisvollen Monsterhöhle - Faslane - vergebens. Nichts deutet auf der Karte darauf hin, dass Gare Loch kilometerweit bebaut und abgezäunt ist. Offiziell existiert diese Weltenecke nicht.
Größter Arbeitsplatzin ganz Schottland
Dabei breitet sich hier ein Konglomerat aus Wohnblocks, Werkstätten, Hafenanlagen und gigantischen Hangar-Bauten aus, das bis zum heutigen Tag der größte einzelne Arbeitsplatz in ganz Schottland sein dürfte. 7000 Beschäftigte halten Faslane am Laufen. Es ist einer der wichtigsten Orte im Vereinigten Königreich überhaupt. Denn Gare Loch, Stützpunkt der britischen Kriegsmarine, beherbergt die nationale Atomstreitkraft Großbritanniens. In Faslane ist Britanniens "nukleare Keule" zu Hause. Hier sind die vier Vanguard-U-Boote stationiert, die in stetem Wechsel durch die Weltmeere ziehen und mit ihren Trident-II-Atomraketen der Nation nukleare Schlagkraft ermöglichen sollen. Ein paar Kilometer weit entfernt, in Coulport am benachbarten Loch Long, sind die atomaren Sprengköpfe gelagert, die auf die Raketen montiert werden.
Das ganze Areal, keine halbe Stunde von Glasgow entfernt, ist das militärisch sensitivste auf der gesamten Insel. Vielen Schotten ist es seit Jahren ein Dorn im Auge. Jetzt aber sehen die Atomwaffen-Gegner erstmals eine Chance, die U-Boote samt ihren Raketen loszuwerden. Sollte Schottland beim Referendum in zwei Wochen sich für staatliche Eigenständigkeit entscheiden, will die schottische Regierung unter Regierungschef Alex Salmond für den Abzug der Trident-Raketen sorgen. Salmonds Partei der Schottischen Nationalisten (SNP) hat seit langem ein atomwaffenfreies Schottland gefordert. So England "seine" Atomraketen behalten will (und an die 80 Milliarden Pfund, also rund 100 Milliarden Euro, für ihre demnächst anstehende Rundum-Erneuerung auszugeben bereit ist), soll es sie gefälligst in englische Gewässer verfrachten.
Sehr lange hat man dieser alten SNP-Forderung in London wenig Beachtung geschenkt. Nicht einmal Kontingenz-Pläne sind im britischen Verteidigungsministerium geschmiedet worden - weil niemand glaubte, dass die Schotten wirklich für Unabhängigkeit stimmen könnten. Dieser Glaube aber ist jetzt plötzlich ins Wanken gekommen. Die Umfragen dieser Woche, die beide Lager fast gleichauf zeigen, haben mittlere Panik an der Themse ausgelöst. Unmöglich ist es jedenfalls nicht mehr, dass nach dem 18. September Trident sich auf die Suche nach einer neuen Heimat machen muss. Unwirsch hat vor wenigen Tagen schon Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen auf diese Aussicht reagiert.
Drohkulisse verzögerter Nato-Beitritt Schottlands
Natürlich, hat Rasmussen versichert, wolle er sich in den Referendums-Streit "überhaupt nicht einmischen". Aber er müsse den Schotten doch sagen, dass ein unabhängiges Schottland erst einmal um Aufnahme in die Nato würde bitten müssen. Und Garantie auf Aufnahme gebe es keine. Immerhin müsse jeder der 28 Mitgliedsstaaten der Nato dem Antrag zustimmen: "Und so manches beitrittswillige Land hat schon viele Jahre gewartet."
In Schottland ist diese Bemerkung auf einigen Unmut gestoßen - wie zuvor schon die Drohung des Verteidigungsministeriums, bei einem erzwungen Abzug Tridents müsse Schottland Schadensersatz in vielfacher Milliardenhöhe zahlen. Ein solcher Ton stößt vielen Schotten sauer auf. Sie sehen nicht ein, warum Schottland anders behandelt werden sollte als andere kleinere Nato-Länder ohne eigene Atomwaffen. Wie Dänemark oder Norwegen etwa.
Salmond will bei Atom-Booten "keine Fragen stellen"
Kurios nimmt sich die Sache jedenfalls aus, in schottischen Augen. Könnte Schottland aus der Nato kippen - kurz nachdem Wales den größten Nato-Gipfel aller Zeiten ausgerichtet hat? Salmond hält das für "bloße Angstmacherei" der Unabhängigkeits-Gegner. Zugleich weiß er aber natürlich auch, dass Trident bei einem Ja am Referendumstag zu einem der konfliktträchtigsten Scheidungs-Punkte werden würde.
Der SNP-Chef hat sich darum Mühe gegeben, den Streit um Faslane zu entschärfen. Erst einmal hat Salmond, vor zwei Jahren, seine Partei zur Nato-Mitgliedschaft bekehrt. Dann hat er deutlich gemacht, dass er einen Abzug der Tridents aus Faslane nicht von heute auf morgen erwarten würde. Sondern dass die Verlegung der "Monster" einige Zeit - etwa sechs Jahre - in Anspruch nehmen könnte. Darüber hinaus hat Schottlands Regierungschef der Nato ein interessantes Zugeständnis gemacht. Genau wie Dänemark oder Norwegen, hat er gelobt, würde auch ein unabhängiges Schottland "keine Fragen stellen", wenn Nato-Schiffe mit Atomwaffen an Bord durch schottische Gewässer führen oder in schottischen Häfen anlegten.
Damit soll Nato-Befehlshabern die Angst genommen werden, dass ein unabhängiges Schottland der Allianz die Nutzung seiner riesigen Gewässer und langen Küsten verwehren könnte. Die bisherige britische Nato-Botschafterin Dame Mariot Leslie hat denn auch anlässlich des Newport-Gipfels erklärt, sie hege "keinerlei Zweifel" daran, dass die anderen 28 Nato-Staaten ein unabhängiges Schottland in ihren Reihen wärmstens begrüßen würden. "Kein Bündnispartner würde die integrierten Verteidigungs-Strukturen in der Nordsee und im Nordatlantik auflösen wollen", versichert Mariot Leslie: "Schon gar nicht zu einer Zeit erhöhter Spannungen mit Russland." Für Schottland werde es "keine Warteschlange" geben. Die wehrhafte, in Edinburgh geborene Dame will am 18. September ihrerseits für die schottische Unabhängigkeit stimmen.
Keine Atomwaffen statt gigantischer Kosten?
Hoffnungen auf noch weiter reichende Konsequenzen eines schottischen Ja hegen unterdessen auch viele englische Atomwaffen-Gegner - wie einige der beharrlichen Demonstranten im Friedenslager von Faslane, die gegenüber dem Südtor zum Gelände, inmitten bunt bemalter Wohnwagen, räderloser Kleinbusse und wetterfester Wigwams, zusammen mit schottischen und anderen Gesinnungsgenossen "die Wacht an Gare Loch" halten. Die Trident-Gegner spekulieren, dass ein schottisches Nein zu Trident auch Liberale und Labour in London dazu bewegen könnte, ganz auf Atomwaffen zu verzichten, statt gigantische Summen in neue Systeme zu stecken. Für das Peace Camp von Faslane wäre das ein ganz unerhörter Erfolg, nach der langen Zeit vergeblichen Widerstands gegen die gefürchteten Waffen. Immerhin gilt das Camp das älteste dieser Art in der Welt: Es feierte jüngst seinen 32.Geburtstag.
Was aus Trident werden soll, falls London "die Keule" doch weiter behalten will, hat derweil das Royal United Services Institute, eine renommierte britische Militärakademie, herausgefunden. Trident könnte ohne weiteres nach Devenport in Plymouth, an die Südwestküste Englands, verlegt werden, meinen die Instituts-Forscher. Dort liegen schon jetzt die nuklear betriebenen, aber nicht mit Atomraketen ausgestatteten U-Boote der Insel in Bereitschaft.