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Die Mühen des Neubeginns

Von Werner Hörtner

Reflexionen

Nach einem halben Jahrhundert Bürgerkrieg versucht Kolumbien, den Konflikt zu beenden. Das Jahr 2014 steht ganz im Zeichen zweier wichtiger Wahlgänge und des Abschlusses eines Friedensabkommens.


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Der Andenstaat Kolumbien ist das letzte Land Lateinamerikas, in dem sich die Staatsmacht und linke Guerillaverbände bekämpfen. Über 220.000 Menschen sind im Verlauf eines halben Jahrhunderts im Kreuzfeuer staatlicher Sicherheitskräfte, mit ihnen verbündeter rechter Paramilitärs und linker Aufständischenbewegungen ums Leben gekommen, die meisten davon Zivilisten.

Der Justizpalast in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá ist ein Zentrum der juristischen Aufarbeitung des Bürgerkriegs und der militanten Gewalt. 
© Foto: Karen Hoffmann/Demotix/Corbis

Bewaffnete Einheiten

Anfang der 1960er Jahre errichtete eine Gruppe von Bauern im Süden Kolumbiens eine kleine lokale Gegenmacht, die ein paar Jahre darauf von der Luftwaffe unter Einsatz von Napalm-Bomben erobert wurde. Doch die Rebellen hatten sich schon vorher in Sicherheit gebracht und gründeten im September 1964 eine Guerilla-Organisation, der sie zwei Jahre später den Namen "Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens" gaben, in der spanischen Abkürzung FARC. In den folgenden Jahren schossen auch andere Aufständischenbewegungen wie Pilze aus dem Boden, von denen neben den FARC heute noch das "Nationale Befreiungsheer" (ELN) aktiv ist.

Im Laufe der folgenden fünf Jahrzehnte wurden immer wieder Friedensbemühungen eingeleitet, die dann regelmäßig in einem neuen Blutvergießen endeten. Diesmal dürfte jedoch der bewaffnete Dauerkonflikt einen friedlichen Ausgang finden.

In der ersten Hälfte des Jahres 2012 handelten Vertreter der kolumbianischen Regierung und der FARC-Guerilla in Geheimgesprächen einen minutiösen Fahrplan für einen Verhandlungsprozess aus. Dabei wurden sie tatkräftig von norwegischen Friedensexperten unterstützt. Am 18. November 2012 begann dann in der kubanischen Hauptstadt Havanna der Friedensdialog, wo er seit damals abgehalten wird.

"Ein Jahr mit vielen Erfolgen, wichtigen Fortschritten und neuen Herausforderungen geht zu Ende", verkündete Staatspräsident Juan Manuel Santos in seiner Neujahrsansprache 2014. "Dieses neue Jahr hat zwei besondere Kennzeichen. Es wird ein Jahr sein, in dem ein neues Parlament und ein neuer Präsident gewählt werden. Und außerdem wird es hoffentlich ein Jahr sein, in dem der bewaffnete Konflikt, der uns seit einem halben Jahrhundert ausblutet, ein Ende finden wird."

Fast das ganze erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts wurde Kolumbien von einem rechtsautoritären Staatschef beherrscht, Álvaro Uribe Vélez (2002-2010). Dieser hatte sich vorgenommen und der Bevölkerung eingeredet, er werde in wenigen Jahren die Guerilla so weit militärisch schwächen, dass sie nach seinem Diktat in Friedensgespräche einwilligen muss. Doch trotz Uribes Politik "mit großem Herzen und harter Hand", so seine Eigendefinition, hat die Guerilla seine Regierungszeit überlebt.

Tatkräftig unterstützt wurde Uribe in seinem Kampf gegen die Guerilla von den Vereinigten Staaten. Bereits unter seinem Vorgänger, Präsident Pastrana, war der "Plan Colombia" angelaufen, ein milliardenschweres Hilfsprogramm für die kolumbianische Armee, mit dem der Andenstaat schlagartig neben Israel und Ägypten zum dritthöchsten Bezieher von US-Militärhilfe aufrückte.

Schatten des Krieges

Wie die Tageszeitung "Washington Post" erst im Dezember 2013 enthüllte, begannen die Geheimdienste CIA und NSA im Jahr 2003 eine gezielte Vernichtungskampagne gegen FARC-Kommandanten. Dabei wurden mit ferngesteuerten Bomben und einem GPS-Navigationssystem mindestens ein halbes Dutzend Führer der Guerilla ermordet.

Erst unter Uribes Nachfolger Juan Manuel Santos begann ein neuerlicher Friedensdialog mit den kommunistischen Aufständischen. Doch die Schatten des Krieges lasten noch schwer auf dem Land, und sie entzweiten auch die früheren Weggefährten. Uribe ist heute der Wortführer der Gegner einer Aussöhnung mit der Guerilla; jede Verhandlung mit ihr ist für ihn Verrat. 1983 wurde sein Vater, ein wohlhabender Drogenhändler, auf einem seiner Landgüter bei einem Überfall der FARC getötet, worauf wohl sein abgrundtiefer Hass auf diese Bewegung zurückzuführen ist.

Auf der anderen Seite des gewalttätigen innenpolitischen Spektrums Kolumbiens stehen die paramilitärischen Gruppen, illegale bewaffnete Einheiten, die sich allen möglichen kriminellen Aktivitäten widmen, vor allem dem Drogenhandel. Lange Zeit hatten sie in Zusammenarbeit mit den staatlichen Sicherheitskräften und Geheimdiensten die Guerillabewegungen und Regimekritiker - Gewerkschafter, Bauernführer, Aktivistinnen und Aktivisten von Menschenrechtsorganisationen usw. - bekämpft. Unter Uribe wurden sie demobilisiert, oder besser gesagt legalisiert - und sind heute immer noch als Killerkommandos für Drogenhändler, Großgrundbesitzer und internationale Unternehmen aktiv.

Zu Beginn der Friedensverhandlungen meinte Staatschef Santos noch optimistisch, der Dialog sei "eine Angelegenheit von Monaten, nicht von Jahren", doch zog sich der Verhandlungsprozess wider Erwarten in die Länge. Im Juni 2013 wurde schließlich ein erstes Teilabkommen der in sechs Themen gegliederten Agenda unterzeichnet, und zwar zum wichtigen Agrarthema. Anfang November folgte ein zweites Teilabkommen zur "politischen Beteiligung", d.h. über die Teilnahme der Opposition und der demobilisierten Guerilla am politischen Leben des künftigen Kolumbien.

"Oppositionsstatut"

Zu den Inhalten der Teilabkommen ist nur wenig bekannt; sie werden erst bei der Unterzeichnung des Gesamtabkommens veröffentlicht. Wie zur politischen Partizipation durchsickerte, soll ein in der Verfassung verankertes "Oppositionsstatut" ausgearbeitet werden, das die Rechte und Garantien für oppositionelle soziale und politische Bewegungen und Parteien festlegt.

Ivan Cepeda, profilierter Abgeordneter der Linkspartei "Polo Democrático".
© Foto: David Garcia

Die nunmehr noch offenen vier Verhandlungsthemen - Demobilisierung der illegalen bewaffneten Akteure und Übergangsjustiz, Lösung des Problems Drogenhandel sowie Umsetzung, Überprüfung und Legalisierung des Abkommens - dürften keine größeren Schwierigkeiten mehr bereiten, mit Ausnahme des Punktes Übergangsjustiz. Dabei dreht es sich darum, einen rechtlichen Rahmen für die strafrechtliche Ahndung der schweren Menschenrechtsverletzungen aller beteiligten Akteure am bewaffneten Dauerkonflikt zu finden, d.h. der Guerilla, der Paramilitärs, aber auch der staatlichen Sicherheitskräfte.

Im abgelaufenen Jahr hat Kolumbien viel Bewegung erlebt. Begonnen hatte es im März mit einem Streik der Kaffeebauern und -bäuerinnen, gefolgt von regionalen Aufständen der Landbevölkerung, die um die Jahresmitte in einen so genannten "Nationalen Agrarstreik" mündeten. Dabei wurden zahlreiche Verkehrsrouten im ganzen Land blockiert. Im Oktober brach im südlichen Departement Cauca ein Aufstand der indigenen Bevölkerung aus, der sich rasch auch auf andere Provinzen des Staates ausbreitete.

Die vielen Märsche und Protestaktionen der ländlichen Bevölkerung wecken bei vielen Menschen in Kolumbien eine neue Hoffnung auf Veränderung. Alirio Uribe Muñoz, Gründer und bis vor kurzem Leiter der renommierten Menschenrechtsorganisation "José Alvear Restrepo" (CAJAR), vergleicht die Situation auf dem Land mit einem populären Küchengerät: "Es ist, wie wenn man bei einem Druckkochtopf den Deckel entfernt und der ganze unterdrückte Inhalt explodiert."

Auch der Abgeordnete der Linkspartei "Polo Democrático", Ivan Cepeda, blickt voller Erwartung auf die Entwicklung in den ländlichen Gegenden Kolumbiens. "Mit dem Friedensabkommen können demokratische Bedingungen für die politische Beteiligung der Landbevölkerung in Kolumbien geschaffen werden. Wenn nun echte demokratische Verhältnisse herrschen, so könnte die Linke am Land einen beträchtlichen Aufschwung erleben."

Wegen seiner Enthüllungen über die Beteiligung von Expräsident Uribe am Entstehen paramilitärischer Gruppen ist Cepeda einer der meistbedrohten Menschen in Kolumbien. Bei Überlandfahrten ist er stets von einer ganzen Gruppe von Leibwächtern umgeben. Sein Vater, der kommunistische Abgeordnete Manuel Cepeda, wurde 1994 auf dem Weg zum Parlament erschossen. Als Täter wurden Jahre später einige Armee-Angehörige und Paramilitärs identifiziert und verurteilt.

Im vergangenen November trafen sich in Bogotá knapp 1300 Delegierte der aus einer langen Agonie wieder erwachten "Patriotischen Union" (UP) zu ihrem ersten Parteikongress seit 14 Jahren. Die UP war 1985 als ein legales Kind der FARC-Guerilla und der Kommunistischen Partei gegründet worden. Aufgrund ihrer guten Wahlerfolge wurden die Aktivisten und Aktivistinnen der neuen Partei nun zur Zielscheibe einer Vernichtungskampagne durch die rechtsextremen Killerkommandos der Paramilitärs in Zusammenarbeit mit den staatlichen Sicherheitskräften. Dabei wurden im Verlauf von 25 Jahren an die 5000 Partei-Angehörige selektiv ermordet.

Auf dem UP-Kongress wurde der Vorschlag zur Bildung einer "Breiten Front für den Frieden" präsentiert, einem Bündnis progressiver Kräfte. Zur großen Überraschung der Öffentlichkeit wählte der Kongress Aída Abella zur Kandidatin für die Präsidentschaftswahlen. Die UP-Politikerin war Gemeinderätin in Bogotá, als sie 1996 nur knapp ein Attentat überlebte. Sie flüchtete in die Schweiz, von wo sie erst kurz vor dem Kongress - nach fast 18 Jahren des Exils - zurückkehrte.

Entscheidende Wahlen

Der Fortgang des Friedensprozesses ist eng mit den Wahlen 2014 verbunden - und umgekehrt. Anfang März finden Wahlen zu den beiden Parlamentskammern statt, dem Abgeordnetenhaus und dem Senat. Und am 25. Mai wird der nächste Präsident des Landes gewählt. Expräsident Uribe darf nicht mehr antreten, da er bereits zwei Amtsperioden lang Kolumbien regierte. Er wird jedoch bei den Parlamentswahlen für einen Sitz im Senat kandidieren und hat bei einem Konvent seiner Partei "Centro Democrático Uribe" seinen ehemaligen Finanzminister Oscar Zuluaga zum Kandidaten für das Amt des Staatschefs küren lassen.

Neben der Uribe-Marionette Zuluaga stehen bisher nur Aída Abella von der UP sowie Clara López vom ebenfalls linksgerichteten Polo Democrático als Kandidatinnen fest. Ingrid Betancourt, die sechs Jahre lang von der FARC-Guerilla in Geiselhaft gehalten wurde, möchte für ihre kleine Öko-Gruppierung "Grüne Sauerstoff-Partei" kandidieren, andere Parteien haben sich noch nicht entschieden.

Jedenfalls ist das Kolumbien von 2014 nicht mehr das Kolumbien von gestern. Leicht möglich, dass sich der Andenstaat als letztes Land des Kontinents für eine friedliche Zukunft entscheidet.

Werner Hörtner war Redakteur der Zeitschrift "Südwind". 2013 erschien von ihm im Rotpunktverlag, Zürich, das Buch "Kolumbien am Scheideweg", das die jüngste Geschichte des Landes beleuchtet. Buchpräsentation am 30. Jänner, 19.00 Uhr, im Europasaal des Lateinamerika-Institutes in Wien, Türkenstraße 25.