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"Die muslimischen Länder waren vor der Moderne säkular"

Von Stefan Beig

Politik

Rüdiger Lohlker betont, dass Scharia im Islam verschiedene Bedeutungen hat.


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"Wiener Zeitung":Im Westen gilt "Scharia" als Schreckgespenst. Doch was bedeutet der Begriff?Rüdiger Lohlker: Es gibt mehrere Bedeutungen. Das islamische Recht im ältesten Sinn meint die Auseinandersetzung der Rechtsgelehrten mit der Beurteilung der menschlichen Handlungen durch Gott. Da wir nicht genau wissen, was Gott im Sinn hat, müssen wir versuchen, es zu verstehen. Eine andere Bedeutung hat Scharia, wenn sie als Parole verwendet wird, um islamisches Recht einzuführen.

Scharia hat für Muslime auch eine rein lebenspraktische Bedeutung?

Ja. Natürlich kann man auch Scharia als Vorstellung des richtigen Lebens enger und weiter sehen. Entweder bleibt man eng am Buchtstaben, um zu bestimmen, was erlaubt und was verboten ist, oder man sucht auch den Geist hinter dem Buchstaben.

Scharia als politische Parole ist ein neueres Phänomen?

Das begann erst mit den politisch-islamischen Bewegungen, die besonders ab den 1970er Jahren die Einführung und Anwendung der Scharia als staatliches Gesetz forderten. Auch einige Staaten haben angefangen, in ihren Verfassungen auf die Scharia Bezug zu nehmen. Das bekannteste Beispiel ist Ägypten. In den 1980er Jahren wurden im Sudan deshalb Körperstrafen eingeführt, wie auch im Iran, in Saudi-Arabien und in Afghanistan.

Die Einführung des islamischen Rechts war also eine durchaus blutige Geschichte?

Das war es zum Teil. Dabei sind derartige Strafen auch praktizierenden Muslimen zuwider. Das Problem ist eben, welchen Begriff von Scharia wir verwenden.

Wird die Einführung der Scharia in Tunesien ein Thema sein?

In Tunesien weniger, in Ägypten könnte es anders aussehen. Teilen der Muslimbrüder ist das islamische Recht ohne Zweifel wichtig. Allerdings sind sie keine homogene Organisation. Die Frage ist allerdings, wer dort tatsächlich die Macht hat und wie viel der Militärrat zulassen wird.

Wie wurde das islamische Recht früher angewandt?

Ich würde sagen, die muslimischen Länder waren vor der Moderne eher säkular. Die jeweilige Herrschaft hat eine große Rolle gespielt. Deshalb waren die Gesetze auch nicht so einheitlich. Körperstrafen waren nicht so verbreitet, wie man denkt. Es gibt etwa nur wenige Informationen über Steinigungen wegen Ehebruchs. Häufige Strafen gab es hingegen für Straßenraub und Plünderungen. Es gab auch Ausreißer. Ich will nicht idealisieren. Es zeigt sich kein einheitliches Bild.

War das islamische Recht im Mittelalter fortschrittlich im Vergleich zum europäischen?

Das würde ich nicht sagen. Das kann man aus wissenschaftlicher Sicht so nicht abwägen. Man kann - sehr allgemein - sagen: Es war mit Europa vergleichbar.

Beschäftigt die Frage der Lebbarkeit des Islam in einem säkularen Staat heute noch viele Muslime?

Muslime bemühen sich intensiv um eine Lebbarkeit des Islam in der Moderne, und da gibt es konservativere und liberalere Lösungen, etwa im Hinblick auf die Polygamie, die Heirat zwischen muslimischen Frauen und Nicht-Muslimen oder das Erbrecht. Früher waren muslimische Männer die Familienerhalter. Wenn man heute nicht mehr von einer männlichen Familienerhalterrolle reden kann, können sich einige Bestimmungen ändern.

Als religiöser Muslim kann man sicher in einer säkularen Gesellschaft leben. Eigentlich gibt es dazu keine offenen Fragen mehr. Ansichten wie die, dass man aus säkularen Gesellschaften auswandern muss, sind in der Zwischenzeit eine Minderheitenmeinung.

Was lief in Afghanistan und im Sudan falsch?

Dort hat man den Islam sehr einseitig und eng interpretiert. Zum Teil waren die Gesetze mit lokalen Traditionen verbunden, die gerade in Afghanistan alles andere als frauenfreundlich sind.

Warum gab es diese Hemmung, sich der Moderne zu öffnen?

Die Moderne ist nicht grundsätzlich etwas Positives. Wegen des Kolonialismus haben Muslime der europäischen Moderne häufig etwas Negativem gesehen. Das war eine lange Bürde. Ohne das zu bedenken, verstehen wir den Modernisierungsprozess im Islam nicht. Deshalb ist es eine große Chance, wenn heute Muslime in Europa und den USA den Islam innovativ weiterdenken. In Ägypten sind die Möglichkeiten einer religiösen Debatte nach wie vor beschränkt.

Zur Person



RüdigerLohlker

Der Islamwissenschafter lehrt an der Universität Wien. Kürzlich erschien sein Buch über "Islamisches Recht".