Copacabana, Zuckerhut, Samba. Rio de Janeiro bietet eine traumhafte Kulisse für die Olympischen Sommerspiele im August. Doch hinter den
Kulissen brodelt es auch.
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Sportfans, die im August zu den Olympischen Sommerspielen fahren, stehen vor einem wirklich großen Problem: Die Spiele finden nämlich in Rio de Janeiro statt, der vielleicht schönsten und spannendsten Metropole in ganz Südamerika.
Eine Caipirihna an der Copacabana schlürfen! Ein Mal im Leben den weltberühmten Karneval miterleben! Zuckerhut, Strandschönheiten, Samba-Party in tropischer Hitze. Wer hat nicht schon einmal von dieser Stadt geträumt! "Gott muss wirklich sehr verliebt gewesen sein, als er Rio erschuf", schwärmte selbst Rolling-Stones-Gitarren-Legende Keith Richards nach einem Konzert an der Copacabana.
Mit solch einer Stadt rücken sogar die Sportveranstaltungen der Olympischen Spiele in den Hintergrund. Nicht wenige werden vor die schwierige Frage gestellt: Auf welche Wettkämpfe verzichte ich, um noch ein paar Stunden mehr diese "Cidade maravilhosa" genießen zu können?
Warum Rio de Janeiro den Beinamen "wundervolle Stadt" trägt, versteht man erst richtig, wenn man sie aus der Vogelperspektive des "Erlösers" sieht: Die gewaltige Christus-Statue thront imposant auf dem 700 Meter hohen Corcovado-Stadtberg. Schon die steile Auffahrt mit der Zahnradbergbahn durch den dichten Regenwald des Tijuca-Nationalparks ist ein Erlebnis.
Am Fuße der monumentalen, 38 Meter hohen Art-Déco-Statue aus dem Jahre 1931 wird so manch einer sprachlos. Oder auch nicht: "Amazing! Das ist die schönste Stadt, die ich jemals gesehen habe", kreischt eine US-Amerikanerin hysterisch. Sie genießt den Ausblick aber kaum, ist vorkommen im Selfie-Rausch. Peinlicher Auftritt. Aber sie hat Recht. Von hier oben zeigt sich Rio de Janeiro einfach als Mutter aller Ansichtskarten: eine Sechs-Millionen-Metropole idyllisch eingekesselt zwischen dem subtropischen Regenwald und dem türkisblauen Atlantik.
30 Minuten Adrenalinüberschuss
Abrupt trennen dschungelüberwachsende Granithügel die Stadtviertel mit ihren weißen Hochhäusern voneinander. Dazwischen immer wieder große Lagunen. Jedes Viertel hat seinen eigenen Strand, seine eigene Bucht, seinen eigenen Charakter. Ganz rechts bäumen sich direkt am Meer die markanten "Zwillingsfelsen" im Hintergrund auf. Wer abenteuerlustig ist, sollte hier vom 520 Meter hohen Pedra Bonita einen Tandem-Flug im Gleitschirm wagen, der nach 30 Minuten Adrenalinüberschuss auf dem Strand von São Conrado endet.
Vom Corcovado aus konzentrieren sich die Blicke – und Kameras – automatisch auf den weltberühmten Zuckerhut, den Pão de Açúcar. 395 Meter ragt der riesige Felsen auf der Halbinsel Urca steil aus dem Wasser. Dahinter breitet sich die Guanabara-Bucht mit ihren zahlreichen kleinen Inseln aus. Hier finden im August die olympischen Segelregatten statt.
Wer mit der Gondel-Seilbahn auf den Zuckerhut fährt, wird mit einem grandiosen Stadtpanorama belohnt: Der Blick fällt direkt auf das hügelige Künstlerviertel Santa Teresa mit seinen Galerien und Cafés. Hier lebt Rios Bohème. Viele Maler, Dichter und Musiker verschlägt es zum Feiern und Sambatanzen aber ins alte Stadtviertel Lapa am Fuße des Hügels. Eine 215-Stufen-Treppe, die der Künstler Jorge Selarón 1994 mit 2000 bunten Keramikkacheln aus 60 Ländern verzierte, führt hinab ins angesagte Ausgehviertel.
Vom Zuckerhut aus sieht man in der Ferne auch die Copacabana und die Praia Ipanema glitzern. Doch Rio de Janeiros weltberühmten Postkartenstrände können wirklich deprimierende Orte sein. Zumindest für schneeweiße Europäer mit Bürosesselfigur, die einfach nur zum Relaxen gekommen sind. Denn irgendwie scheinen alle braungebrannt, sportlich und aktiv zu sein.
Körperkult mit grotesken Zügen
Natürlich gibt es nicht nur durchtrainierte Muskelpakte, Ballkünstler und Bikini-Schönheiten am Strand. Doch irgendwie legt sich hier niemand einfach nur mal so zum Sonnen in den Sand. Die Cariocas, so werden Rios Einwohner genannt, gehen an den Strand, um zu schwimmen, zu surfen und zu joggen. Sie machen Liegestützen, spielen Fußball, Beachball, Volleyball. Bis tief in die Nacht hinein beleuchten Scheinwerfer die Strände, damit die Peles der Zukunft auch nach Sonnenuntergang noch im Sand kicken können. Da kommt man schon beim Zuschauen ins Schwitzen – selbst wenn man gerade eine frische Kokusnuss im Schatten einer der zahlreichen Strandbars schlürft. Der Körperkult nimmt in Rio nahezu groteske Züge an, machen die Stadt zu einem einzigen Fitness-Zentrum und zu einem würdigen Austragungsort Olympischer Spiele. Ironisch könnte man sich fragen: Glauben die vielleicht alle, selber an den Sommerspielen teilnehmen zu können?
"Das sieht fast so aus!", lacht Evaldo. "Aber das ist Rio. Wir haben hier das ganze Jahr über ein tropisches Wetter, ein herrliches Meer. Hier kannst du gar nicht anders. Die Vitalität dieser Stadt ist mitreißend. Unser Leben spielt sich auf der Straße, im Freien ab", meint der 25 Jahre alte Grafikdesigner. Brasilianer seien für ihre Lebensfreude ja bekannt. "Und wir Cariocas sind die Meister. Das liegt an dieser Stadt und ihrem Klima. Warum sonst kommt der berühmteste Karneval der Welt aus Rio?", fragt Evaldo.
Eine Antwort auf seine rhetorische Frage wartet der smarte Brasilianer mit türkisfarbenen T-Shirt und schwarzer Sporthose nicht ab. Mit der Brust nimmt er den Ball an, spielt ihn mit dem Fuß seinem Partner Felipe zu, der ihn per Kopf wieder übers Volleyball-Netz schmettert. Evaldo und sein Arbeitskollege spielen fast jeden Tag in der Mittagspause am Strand von Ipanema Foot-Volley.
Meistens treffen sie sich zwischen dem Posto 9 und 10. Postos sind die durchnummerierten Hochsitze der Rettungsschwimmer, welche die Strandabschnitte einteilen. Und an diesem Strandabschnitt scheinen sich nur die Schönen, Durchtrainierten und Erfolgreichen zu versammeln. Es ist ein Sehen und Gesehen-werden. Hier trägt man Havaiana-Flipflops und Bikini-Modelle, die erst Jahre später auch in Europas Läden kommen. Hinter der Strandpromenade locken hippe Bars und Läden.
Stadt putzte sich heraus
Hier ist Rio die "Cidade maravilhosa". Doch Rio ist nicht überall eine Traumstadt. Ein Blick in die Favelas, die Armenviertel an den Berghängen, genügt, um das zu begreifen. Viele Viertel, vor allem das historische Zentrum, ließ Bürgermeister Eduardo Paes mit Blick auf die Fußball-WM vor zwei Jahren und die nun beginnende Olympiade herausputzen. Die U-Bahn wurde erweitert, der Flughafen ausgebaut, Kolonialhäuser und ganze Straßenzüge renoviert. Paes Lieblingsprojekt war die Verschönerung des alten Hafenviertels Porto Maravilha, wo seit Dezember am Pier Mauá auch das futuristische "Museum von Morgen" steht. Der Bau des spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava ist von außen ein richtiger Hingucker und wird bereits zu einem der neuen Wahrzeichen der Stadt – auch wenn die Ausstellung enttäuschend ist und das stundenlange Warten in der Schlange deshalb nicht wirklich lohnt.
Für die Außenbezirke wie Barra da Tijuca wurde eine Schnellbuslinie eröffnet. Gott sei Dank: Hier befinden sich nämlich 56 Kilometer außerhalb des Zentrums das Olympische Dorf und der Olympiapark. Und die geplante U-Bahnlinie, die mit 2,5 Milliarden Euro fast doppelt so viel kostete, wie geplant, wird nicht rechtzeitig zur Olympiade fertig.
Fast zehn Milliarden Euro pumpte Brasilien in die Sportstätten und Infrastrukturprojekte in Rio de Janeiro, damit die Welt im August eine tadellose Olympia-Stadt sehen kann. Doch dann brach vor zwei Jahren die Wirtschaft ein und damit auch die Olympia-Vorfreude vieler Cariocas. Rio ist plötzlich hoch verschuldet, muss Milliarden für die Olympia-Projekte zahlen. So gibt es kein Geld mehr für Lehrer und Ärzte, 143.000 Renten warten seit März auf ihre Pensionen.
Lehrer warten seit Monaten auf Lohn
"Wir Lehrer und Universitätsprofessoren erhalten seit Monaten keinen Lohn mehr, weil die Stadt die Bauunternehmen bezahlen muss, die mit einem Baustopp der Olympischen Sportstätten drohen, sollten keine Gelder fließen", empört sich Felipe Demier, Politologe und Geschichtsprofessor an der staatlichen Universität von Rio. Schon seit Monaten werden 70 Schulen in Rio von Schülern besetzt. Sie protestieren dafür, dass die Lehrer wieder Lohn erhalten und Unterricht geben.
Aufgrund leerer Staatskassen mussten im vergangenen Jahr gleich mehrere Krankenhäuser schließen. "In einer solchen finanzielle Lage, Olympische Spiele auszurichten, ist einfach unverantwortlich", meint Jorge Darze, Sprecher der brasilianischen Ärztegewerkschaft, und ergänzt: "Die durch die Olympiade fehlenden Gelder sind für die Einwohner Rios ein größeres Gesundheitsproblem als das Zika-Virus".
Kehrseite der Medaillen
"Immobilienhändler, Bauunternehmer und korrupte Politiker sind bereits die großen Gewinner der Sommerspiele. Es gibt auch die Kehrseite der Olympia-Medaillen", versichert Sandra Quintela, Koordinatorin des Instituto Políticas Alternativas para o Cone Sul – kurz Pacs. Die NGO, die von der österreichischen Dreikönigsaktion der katholischen Jungschar unterstützt wird, untersucht die sozialen Kosten von Megaevents in Brasilien.
"Während die Ausgaben für Gesundheit und Bildung heruntergefahren wurden, erhöhte die Stadt mit Blick auf die Sommerspiele trotz Krise und leeren Kassen noch mal die Kosten für Sicherheit im vergangenen Jahr von 12 auf 15 Prozent", erklärt Quintela. Die Stadtverwaltung wolle die Stadt für die Spiele sicherer machen. Das sei schön. "Aber die Art und Weise ist brutal. Die Zahl der getöteten Kriminiellen und Nicht-Kriminellen durch die Spezialeinheiten der Polizei ist in den vergangenen Monaten explodiert. Bettelnde Straßenkinder werden in Busse gesetzt und einfach aus der Stadt gefahren", empört sich die NGO-Koordinatorin.
Auch bei der sogenannten "Befriedung" der Favelas, in denen die Drogenmafias regieren, gehe die Polizei extrem gewalttätig vor. "Man will diesen Imagefehler oder Schandfleck vor den Spielen einfach nur unter Kontrolle bekommen, um negative Schlagzeilen zu verhindern", meint Sandra Quintela. Projekte, die Infrastruktur und das Leben der Favela-Bewohner zu verbessern, gebe es allerdings kaum, bestätigt auch Amnesty International.
Auch die Verbesserung der Infrastruktur der Stadt und Verschönerungen einiger Stadtviertel sei ja wunderbar. Aber sie gehe selbst auf Kosten der normalen Bürger. "Die Immobilienspekulation im Zuge der Olympischen Spiele und bereits zuvor mit der Fußball-WM ist brutal. Viele müssen in ärmere Außenbezirke umsiedeln. Die Mieten werden einfach zu teuer" erklärt Quintela.
So hält sich auch bei vielen Cariocas die Olympia-Begeisterung mehr als in Grenzen. Quintela rechnet fest damit, dass das große Heer der "Olympia-Verlierer" die internationale Medienaufmerksamkeit während der Spiele nutzen wird, um Proteste zu starten.
Anreise: Lufthansa/Austrian Airlines fliegen von Wien über Frankfurt nach Rio de Janeiro. Günstiger sind Flüge mit der portugiesischen TAP oder Iberia, mit Zwischenstopp in Lissabon beziehungsweise Madrid. Es besteht für Österreicher keine Visumspflicht. Der Pass muss mindestens noch 6 Monate gültig sein.
Unterkunft: Die Auswahl an Unterkünften ist riesig und reicht von teuren Luxushotels an der Copacabana über günstige Airbnb-Zimmer bis hin zu stylish-modernen Pensionen in Favelas.
Geld: 1 € = 3,6 brasilianische Real
Gesundheit: Impfungen sind für Rio de Janeiro nicht nötig. Sie sollten sich vor Mücken schützen, die den Zika-Virus übertragen.
Sicherheit: Raubüberfälle und Gewaltverbrechen sind in Rio de Janeiro nicht selten. Es ist Vorsicht geboten – auch und vor allem an der touristischen Copacabana. Von Favela-Besuchen sollte man ohne ortskundige Begleitung absehen.
Infos: Fremdenverkehrsamt Brasilien, Börsenplatz 4, 60313 Frankfurt/Main, Tel.: 0049 (0) 69 9638733, www.visitbrasil.com
Die österreichische Dreikönigs-aktion engagiert sich mit ihrer "Menschenrechte sind olympisch"-Aktion bei mehreren Sozialprojekten in Rio de Janeiro. Mehr Infos unter www.dka.at