Die andauernde Unsicherheit drückt auf die Gemüter der Menschen in Kabul.
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Kabul. Ohne Erbarmen bläst der Wind Staub und Sand durch die Straßen Kabuls. Unentwegt schlägt er Türen auf und Fenster zu, belegt die Wassermelonen und Salatgurken der Straßenverkäufer mit einer feinen, grauen Schicht und ärgert Fußgänger, die sich verzweifelt Schals und Tücher vor Mund und Nase halten und um Atem ringen. Die Besitzer der Marktstände drehen ihr Gesicht zur Seite und kneifen die Augen zu, sobald sie können und streichen sich, tief in Gedanken verloren, über die Stirn. Nur wenige Kilometer entfernt, im Diplomatenviertel, hatte in den Morgenstunden eine Autobombe mindestens 80 Menschen in den Tod gerissen. Der Alltag nimmt am Markt am Nachmittag nur gezwungenermaßen wieder seinen Lauf, und wenn sie Sirenen der Rettungsfahrzeuge nicht heulen, nimmt eine bedrückte Stille ihren Platz ein.
Auch Rahim Khan spaziert bedrückt, aber raschen Schrittes die Straße entlang. Er hat noch frisch geschnittene Haare auf seinem Jackett, eben hat er sich für ein paar Afghani überflüssiger Haarpracht entledigt, denn die Tage werden heißer. Khan trägt ein Buch in der rechten Hand, er ist Student der Politikwissenschaften im dritten Semester. Jeden Tag steht er frühmorgens um fünf Uhr auf, um eine Stunde später einen Englischkurs zu besuchen, bevor er sich seinem Hauptfach widmet. Alle Wege erledigt er zu Fuß, meist läuft er zwei Stunden am Tag durch die Stadt, bis er überall war, wo er hinmuss; den Bus kann er sich nicht leisten. "Alles in allem läuft es gut für mich", sagt der 23-Jährige und lächelt freundlich. Er sei glücklich, dass er studieren kann und ein Dach über dem Kopf habe.
Vieles andere im Land sei freilich schwierig. "Es gibt leider Menschen, die einfach alles zerstören wollen", sagt er und schüttelt den Kopf. Er denke viel darüber nach, warum das so ist. Warum der Krieg dieses Land nach fast vierzig Jahren noch immer im Würgegriff hat, die Menschen unerlässlich in die Luft schleudert und auf den harten, staubigen Boden schlage.
Khan kommt aus einer der ärmsten Regionen des Landes, aus Wakhan, 27 Autostunden von Kabul entfernt, der Weg dorthin ist gespickt mit Gebieten, die die Taliban kontrollieren. Der nordöstlichste Zipfel der Region grenzt an China. Das Gebiet ist so entlegen, dass es der Krieg nie dort hinschaffte, genau so wenig wie ein Mobilnetz oder Internet. Vielleicht, sagt Khan, sei er auch deswegen noch immer so verstört ob der Gewalt, die er in Kabul antrifft. Gleich verstört ist Khan darüber, dass nach wie vor viele Menschen in seiner Heimat den Wert ihrer Landsmänner und -frauen nach deren ethnischen Zugehörigkeit bemessen. Die Nacht vor dem Kabuler Attentat habe er damit verbracht, mit einem Unbekannten auf Facebook zu streiten. Dieser hatte die Nachricht über einen Selbstmordanschlag in der Provinz Khost geteilt und sich darüber gefreut - denn in Khost seien bestimmt viele Paschtunen umgekommen. Wieder schüttelt Khan den Kopf. "Die Unsicherheit macht die Menschen verrückt", sagt er. Frieden sei und bleibe die Mutter aller Dinge.
Wenige Meter entfernt zieht Sohaila ihren kleinen Bruder durch die Windböen. Schließlich gibt sie nach und lässt ihn die unzähligen Kanarienvögel bestaunen, während sie Halt macht. Natürlich mache ihr Sorgen, dass die Taliban in ihrem Land wüten und eine Militärbasis nach der anderen und ein Dorf nach dem anderen überfallen. Sie selbst aber stecke bis über die Ohren in Schwierigkeiten.
"Wenn das mein Vater erfährt"
Vor wenigen Wochen habe sich ihre Mutter entschlossen, mit sieben der acht Kinder ihren drogensüchtigen und gewalttätigen Vater zu verlassen. Er glaubt, sie seien in eine nördliche Großstadt gefahren, um über ein Programm für Arme Asyl in einem anderen Land zu bekommen. In Wirklichkeit aber sind sie bei Bekannten untergetaucht, und sie lebe nun in einem Haus, in dem auch Männer sind, mit denen sie nicht verwandt ist. "Wenn das mein Vater erfährt, wird er mich, meine Schwestern und meine Mutter töten", sagt die junge Frau.
Dabei sollte Sohaila gerade jetzt für die Universitätsaufnahmeprüfung lernen, die nach Ende des Ramadan stattfindet. Doch sie könne sich überhaupt nicht konzentrieren. Ihre Mutter ist krank, alle ihre Geschwister jünger als sie und sie versucht zugleich, Arbeit zu finden. Und das Gerücht, dass ihr Vater in jungen Jahren bereits seinen Bruder getötet und im eigenen Feld verscharrt hat - im Dorf wurde erzählt, dieser habe Frauenkleider angezogen und mit Männern geschlafen -, will ihr nicht aus dem Kopf gehen. Sie fasst erneut nach der Hand ihres Bruders, zieht an ihr und entschwindet in einer Seitengasse.
Flucht in die Poesie
Knapp vor den Melonenverkäufern steigt ein mittelgroßer, älterer Mann mit tiefen Falten und einem getrimmten Bart aus einem leicht zerbeulten Auto. Er schiebt seine Mütze zurück, kratzt sich an der Stirn und zieht ein iPhone aus der Tasche, das vorne und hinten von Kratzern und Sprüngen durchzogen ist. Auch Omid Wahidi ist über die Jahre bescheiden geworden. Sein Auto sei zwar nicht gelb, aber er fahre jeden Tag wie ein Taxifahrer Kabulis zur Arbeit, zu ihren Familien oder zum Friedhof. "Wenn ich fünf oder sechs Stück Brot am Tag verdiene, bin ich zufrieden", sagt er.
Auch ihm macht die sich "mit jedem Tag" verschlechterndere Sicherheitslage Sorgen. Sie habe nicht nur Auswirkungen auf "mein Gehirn und meine Entscheidungen", sondern auch auf seine Geldtasche. Der 63-Jährige bedauert, dass er nachts schon lange nicht mehr in viele Ecken der Stadt fahren kann. Die miserable Wirtschaftslage treibe die Menschen in die Kriminalität. Sie hielten Autos an, um ihnen ein paar Afghanis und billige Handys abzuknöpfen. Wer ein neueres Auto habe, dem werde dies abgenommen und der könne froh sein, mit dem Leben davonzukommen.
Auch seinen Bruder im nördlichen Kunduz könne er nicht mehr besuchen. Immer wieder überfallen Aufständische die Straßen dorthin, der Fernverkehr kommt infolge oft tagelang zum Erliegen, und lange Schlangen an Autos und Lkws müssen ausharren, bis die Armee sie wieder zurückerobert und gesichert hat.
In einem Elektrogeschäft hinter Wahidi flimmert ein Bericht über die beliebteste afghanische Sängerin, Ariana Sayeed, über den Bildschirm. Er zeigt Bilder, auf denen die Frau den hautfarbenen Jumpsuit, den sie kürzlich bei einem Konzert trug, anzündet. Konservative hatten sie dafür angegriffen: Etwas Hautfarbenes zu tragen sei wie nackt aufzutreten und für eine Afghanin nicht tolerierbar. "Wenn ihr denkt, dass das einzige Problem Afghanistans dieses Outfit ist, dann werde ich es wegen euch jetzt verbrennen", kommentiert sie ihre Aktion.
Setarah, eine junge, magere Frau, wartet auf den Minibus, der sie in ihr Dorf außerhalb von Kabul bringt. Sie kritzelt Zeile nach Zeile in ein Schulheft. In Kürze wird sie die 12. Klasse abschließen, auch sie bereitet sich für die Aufnahmeprüfung der Universität vor. Jetzt gerade aber schreibe sie Gedichte, wie fast jeden Tag, seit sie zwölf Jahre alt ist. In ihren Gedichten gehe es vor allem um Liebe - ein Gefühl, mit dem die junge Frau in der Realität nur wenig Bekanntschaft gemacht hat. Ihr Vater sei an Tyrannei nicht zu übertreffen gewesen, er schlug sie und ihre sieben Geschwister und warf sie regelmäßig nach Mitternacht aus dem Haus, sodass sie im Garten schlafen mussten.
Vor fünf Jahren sei er von den Taliban ermordet worden, bis heute wisse die Familie nicht, warum. Auch wenn der Verlust gleichzeitig eine gewisse Erleichterung gewesen sei, Hoffnung für die Zukunft zu schöpfen traut sie sich nicht. Denn seither lähmen tägliche Streitigkeiten um jeden Afghani die Familie, das Geld reiche nicht für ein würdevolles Leben. Aber auch wenn sie ihrer Lieblingsbeschäftigung frönt, der Literatur, und einen der Literaturzirkel der Stadt besucht, fühlt sie sich selten wohl. Zu aufdringlich seien die Blicke der Männer, mit denen sie sich eigentlich austauschen möchte, zu zweideutig ihre Anspielungen.
Bevor sie in den Bus einsteigt, liest sie ein paar Zeilen vor. "Ein Strudel aus Leid, Elend und Zweifel zieht mich in die Tiefe - um mich herum nur Angst und Barbarei - wie schwer ist es zu gehen, wie schwer ist es zu bleiben - werden meine Augen jemals einen Morgen sehen?"
Mit mindestens 90 Todesopfern und über 400 Verletzten war es einer der blutigsten Anschläge in Afghanistans Hauptstadt seit Jahren. Ziel war - wie bereits im März - das Diplomatenviertel im Zentrum der Stadt, das zu den best bewachten Orten des Landes zählt. Einem Selbstmordattentäter gelang es am Mittwoch dennoch, im morgendlichen Stoßverkehr seinen mit Sprengstoff beladenen Lkw durch die Kontrollen zu bringen und sich neben der deutschen Botschaft in die Luft zu sprengen. Die Explosion auf dem Sanbak-Platz war noch hunderte Meter weit zu hören. Dicke schwarze Rauchschwaden hingen über dem Viertel. Leichen und blutüberströmte Überlebende seien auf der Straße gelegen, als die Rettungstrupps eintrafen, unter ihnen viele Kinder und Schüler, berichteten Augenzeugen. Unter den Todesopfern waren auch ein Fahrer des britischen Senders BBC sowie ein Wachmann der deutschen Botschaft - beide Afghanis. Die Opferzahlen könnten noch weiter steigen, weil immer noch Leichen unter den Trümmern entdeckt würden, teilte das Innenministerium in Kabul mit. Durch die Wucht der Detonation wurden mehrere Botschaftsgebäude beschädigt und -angehörige sowie vier BBC-Journalisten verletzt. Österreicher kamen laut der österreichischen Regierung nicht zu Schaden. Derweil schob Österreich trotz der prekären Sicherheitslage auch am gestrigen Mittwoch wieder 17 Afghanen nach Afghanistan ab. Deutschland sagte zwar am Mittwoch eine Sammelabschiebung nach Kabul "aus Rücksicht auf Botschaftsangehörige" ab, will aber ebenso wie Wien an der Ausweisepraxis für Afghanen festhalten.
Zu der Attacke bekannte sich zunächst niemand, sie dürfte aber auf das Konto der Taliban oder des auch am Hindukusch tätigen Terrorgruppe IS gehen.
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