Jährlich gibt es bei den Muezzin Wettkämpfe. | Mit Abstrichen gibt es den Gesang auch in Wien. | Wien. Damit sie nicht versagt, ölt Halit Aslan die Stimme noch mit einem Löffel Honig. Vor seinem "Auftritt" heißt es noch einmal kräftig räuspern. Im Minarett, bereits vor dem Mikrofon stehend, geht er kurz in sich. Dann legt der Muezzin seine Hände an die Ohren, atmet einmal tief ein und stimmt kraftvoll den unvergleichlichen Gesang an: "Allahu akbar", tönt es aus den Lautsprechern über die umliegenden Häuser im Herzen Istanbuls. Der Adhan, der Ruf zum gemeinschaftlichen Gebet, fängt immer mit der Lobpreisung an, die man in etwa mit "Gott ist größer" übersetzen kann.
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Der österreichische Regisseur Sebastian Brameshuber wollte hinter die Anonymität der Klänge blicken, die ihn schon lange faszinierten. Seine neue Doku "Muezzin" stellt Istanbuler Gebetsrufer vor. "Durch ständiges Reproduzieren hat der Sound eine mystische Aura bekommen. Gerade in Filmen werden die Rufe oft verwendet, ohne den Muezzin zu zeigen, etwa um einen orientalischen Schauplatz einzuführen", sagt der 28-Jährige Filmemacher. Brameshuber ist sich der politischen Dimension des Themas bewusst, die musikalischen Aspekte waren ihm gerade deswegen wichtig: "Es ging nicht darum, einen Gutmenschenfilm zu machen, sondern einen Mikrokosmos vorzustellen, eine Stimmung zu vermitteln."
Der Zuseher erlebt die in patriarchaler Struktur lebenden Muezzin nicht nur bei der Arbeit, sondern auch im trauten Kreis der Familie, beim "Chor der Muezzin und Imame" und beim jährlichen Gebetsrufwettbewerb: Hier können die ehrgeizigen Protagonisten, zumeist Vertreter großer Istanbuler Moscheen, ihre Konkurrenz offen austragen.
Wien: Adhan an der Donau
Das musikalische System ist komplex: Die fünf über den Tag verteilten Gebetsrufe sind je nach Muezzin und Tageszeit unterschiedlich in Tonleiter, Melodietypus und Lautstärke. Eine Ausbildung zum Muezzin gibt es nicht.
Auch in Wien kann man die Gesänge jeden Freitagmittag (zum wichtigsten Gebet der Woche) vor der 1979 eröffneten Moschee des Islamischen Zentrums am Hubertusdamm in Floridsdorf hören. Eine Zeit lang wurden täglich drei Gebetsrufe nach außen gesungen. Nach Diskussionen mit Anrainern ist der Adhan mit Ausnahme des Freitagsgebets nur in den Räumen des Zentrums zu vernehmen. Wann er erklingt, entscheiden Mondphasen sowie Sonnenaufgang und -untergang: Das erste Mal wird an der Donau derzeit kurz vor halb drei Uhr morgens, das letzte Mal um 22 Uhr 36 zum Gemeinschaftsgebet gerufen.
Nicht immer gibt es einen hauptberuflichen Muezzin. Im Islamischen Zentrum ruft normalerweise der Imam, also der Vorbeter. Wenn er verhindert ist, kann ihn jeder gläubige Muslim vertreten. Zwar ist in vielen islamischen Ländern der Muezzin ein eigener, bezahlter Berufsstand, eine Berechtigung benötigt er aber nicht. "In kleineren Moscheen macht oft der Imam den Gebetsruf. Er übernimmt dort meist mehrere Funktionen", erklärt Hashim Mahrougi, Direktor des Islamischen Zentrums, der selbst schon zum Gebet gerufen hat. "In anderen Fällen ist der Muezzin eher so etwas wie ein Hauswart, der sich noch um das Gebäude kümmert und in der Nähe wohnt." Da beim Beten der Boden mit dem Gesicht berührt wird, sind Reinigungsarbeiten in Moscheen sehr wichtig.
Wer regelmäßig zum Gebet einladen will, muss allerdings über eine besondere Stimme verfügen. Dazu der Islamwissenschafter Elsayed Elshahed: "Dem Propheten Mohammed war das wichtig. Er verneinte dem zweiten Kalifen diese Aufgabe mit der Begründung, dass seine Stimme zu rau war. So wurde Bilal der erste Muezzin und bekam den Ehrentitel Gebetsrufer des Propheten."
In Brameshubers Dokumentarfilm sieht Habil Öndes, Leiter des Chors der Muezzin und Imame und Instanz der religiös-musikalischen Szene Istanbuls, in populärer Musik eine Konkurrenz für zukünftigen Muezzin-Nachwuchs. In einer Szene schildert Öndes, wie er vom Ruf des örtlichen Imams verzaubert wurde und sofort anfing, diesen zu imitieren. "Was hätte ich früher hören können? Kein Radio, kein Fernsehen, keine guten Sänger, keine guten Koranleser. Alles, was ich hörte, war der Imam", denkt er zurück.
Auch heute noch wichtig
Auch in anderer Hinsicht fordert die technische Entwicklung die Gesangskunst heraus: Muslime wissen heute auch ohne öffentlichen Adhan, wann die Gebetszeiten sind, etwa durch das Internet. Was die Gebetsrufe freilich nicht zu sinnentleerten Ritualen macht: "Das ist Teil des Prozesses, genauso wie die Waschung. Es ist Pflicht!", betont Elshahed. "Wir Muslime nutzen die technischen Errungenschaften, doch sie verdrängen nichts Religiöses." Gesänge des Muezzins seien eine sehr emotionale Sache, die man nicht einfach durch das Schauen auf die Uhr ersetzen könne.
Für Elshahed müssen Muslime hierzulande schon Abstriche machen. "Leute, die sich darüber beschweren, haben das Recht dazu. Aber es ist schade. Wenn ich in Ägypten bin und gleichzeitig Muezzin wie Kirchenglocken höre, dann ist das einfach schön", sagt der gebürtige Ägypter, der in Wien lebt und arbeitet.