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Die Nachfrage und der Klimaschutz

Von Roberto Bocca

Gastkommentare

Wie eine saubere, sichere und gerechte Energiewende beschleunigt werden kann.


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Die Pandemie, der wirtschaftliche Aufschwung, die unsichere Geopolitik und der Krieg in der Ukraine haben in der gesamten Energiewertschöpfungskette - von der Beschaffung über die Lieferung bis hin zur Nachfrage - zu einem starken Druck geführt und eine globale Energiekrise ausgelöst. Eine ganzheitliche Energiewende ist nach wie vor möglich, aber wie die Ereignisse im Jahr 2022 gezeigt haben, sind die Pläne und Prioritäten den Unwägbarkeiten von Geopolitik, Investitionsentscheidungen und wirtschaftlichen Entwicklungserfordernissen ausgeliefert, was darauf hindeutet, dass Pragmatismus, Agilität, Ehrgeiz und ein systemischer Ansatz erforderlich sind.

Gegenwärtig hat die Energiesicherheit für viele Regierungen oberste Priorität, was sich in kurzfristigen politischen Maßnahmen - wie Brennstoffsubstitution, Marktinterventionen und Steuerpolitik - niederschlägt, die darauf abzielen, den Lebensstandard zu erhalten, den ein funktionierendes Energiesystem bietet. Mittel- bis langfristig sind die Erreichung der Klimaziele, die Sicherung des Wirtschaftswachstums und die Ermöglichung einer gerechten Energiewende für alle von größter Bedeutung, denn bis 2050 wird sich die Weltwirtschaft schätzungsweise verdoppeln und zwei Milliarden Menschen zusätzlich versorgen.

Der Baustein der modernen und zukünftigen Wirtschaft

Energie ist ein Grundpfeiler der Weltwirtschaft, und daher hat uns die Krise dazu gezwungen, die Art und Weise, wie wir Energie produzieren, liefern und - vor allem - verbrauchen, grundlegend zu überdenken. Die Überwindung des Status quo und die Sicherstellung der drei Dimensionen Nachhaltigkeit, Sicherheit und Bezahlbarkeit sind jedoch gewaltige und äußerst komplexe Aufgaben und mit einer Vielzahl von Herausforderungen verbunden.

Die große Frage, die sich 2022 herauskristallisiert hat und die 2023 dominieren wird, ist, ob die kurzfristige Dringlichkeit, die Stromversorgung sicherzustellen, die langfristigen Nachhaltigkeitsziele beeinträchtigen wird. Auch wenn die Erkenntnisse der vergangenen Monate gemischt sind, war die Krise ein Weckruf hinsichtlich der dringenden Notwendigkeit einer Reform des Energiesystems, und zwar nicht nur aus Gründen der Nachhaltigkeit.

Um diese verschiedenen Aspekte in ein Gleichgewicht zu bringen und letztendlich bis 2050 ein Netto-Null-Ziel zu erreichen, sind eine rasche Einführung sauberer Stromerzeugung, Verbesserungen der Energieeffizienz und ein umfassender Einsatz von Maßnahmen zur Kohlendioxidbeseitigung erforderlich. Die Uhr tickt, und umfassende Änderungen müssen sofort eingeleitet werden. Bis 2030 müssen Investitionen, die Umstellung und Umsetzung erfolgen, und zwar in einem Ausmaß, wie es vielleicht bei keiner anderen globalen Transformation bisher der Fall war.

Die wichtigsten Säulen der Transformation

Die Verbesserung der Effizienz ist der erste Schritt auf diesem Weg. Energieeffizienz mag zwar nicht den Glanz neuer Energiequellen haben, aber die Entwicklung digitaler Technologien bietet eine enorme Chance, die unnötige Verschwendung, die in unserem derzeitigen Energiesystem steckt, zu beseitigen. Dies führt zu einer erheblichen Verringerung der Emissionen.

Der zweite Schritt ist eine Veränderung der Nachfragemuster in Industrie und Einzelhandel. Mit der Entwicklung und dem Wachstum der Volkswirtschaften steigt auch die Nachfrage nach energieintensiven Produkten wie Zement und Stahl. Um auf diese Entwicklungen in einer Weise reagieren zu können, die den Nachhaltigkeitszielen gerecht wird, darf die Energiemenge, die zur Erzeugung einer BIP-Einheit erforderlich ist, im Jahr 2050 nur noch bei der Hälfte des heutigen Wertes liegen. In dieser Hinsicht werden neben der sauberen Elektrifizierung Kraftstoffe wie Wasserstoff eine wichtige Rolle spielen, da sie als Dekarbonisierungsinstrument in industriellen Prozessen und damit bei der Industriewende dienen.

Die "Transitioning Industry Clusters"-Initiative des Weltwirtschaftsforums vereint Unternehmen und Regierungen mit dem Ziel, Wissen und bewährte Praktiken zur Erreichung von Netto-Null zu teilen. Das übergeordnete Ziel besteht darin, die Emissionen in schwer abbaubaren Industrien und Energiesektoren zu verringern und gleichzeitig die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und das Beschäftigungswachstum zu fördern.

Der dritte Faktor ist die Notwendigkeit, sauberen Strom in großem Maßstab zu erzeugen. Um dies zu erreichen, muss sich das Angebot an kohlenstofffreien Stromquellen bis 2030 mindestens verdreifachen. Parallel dazu müssen die Genehmigungsverfahren für saubere Energie und die entsprechende Infrastruktur von der Projekt- bis zur Betriebsphase beschleunigt werden. Die Gesamtinvestitionen in die Netze müssen bis 2030 von rund 300 Milliarden Dollar auf 820 Milliarden Dollar steigen, und die Länge der Stromnetze (deren Aufbau mehr als 130 Jahre gedauert hat) muss sich bis 2040 mehr als verdoppeln und bis 2050 um weitere 25 Prozent erhöhen.

Angesichts der Tatsache, dass fossile Brennstoffe noch viele Jahre Teil der Wirtschaft sein werden, besteht ein wahrscheinlicher und realistischer kurzfristiger Kurs darin, diese Arten von Brennstoffen zukunftssicher zu machen. Dies bedeutet, dass die Fortschritte bei den Technologien zur Kohlenstoffabscheidung, -nutzung und -speicherung beschleunigt und die Effizienz der bestehenden Anlagen maximiert werden müssen. Diese können weltweit und auf Länderebene drei Aufgaben erfüllen: Sie können die Netto-Treibhausgasemissionen kurzfristig senken, mittelfristig schwer abbaubare Restemissionen ausgleichen und langfristig negative Nettoemissionen erreichen.

Ganzheitliche und strukturelle Lösungen

Die Beschleunigung einer nachhaltigen, sicheren und gerechten Energiewende erfordert einen ganzheitlichen Ansatz und strukturelle Lösungen. Die Konzentration der Anstrengungen auf die Energiebeschaffung und -lieferung sowie auf die Energienachfrage und ein umfassenderer Wandel in allen Bereichen - von den verwendeten Brennstoffen bis hin zu den errichteten Infrastrukturen - sind von grundlegender Bedeutung.

Es wird notwendig sein, sich mit neuen - und weitgehend unvorhergesehenen - Problemen zu befassen, die durch die verschiedenen Brennstoffarten und ihre Lieferketten entstehen werden. Die politischen Entscheidungsträger müssen auch die Verflechtung des Energiesektors mit anderen wichtigen Systemen, insbesondere mit den Bereichen Ernährung, Wasser, biologische Vielfalt und Mobilität berücksichtigen. Neue energiepolitische Maßnahmen werden sich auf diese Systeme auswirken und umgekehrt.

Die Entwicklung einer gemeinsamen Basis durch eine radikale Zusammenarbeit über Finanz-, Regulierungs- und Industriemodelle hinweg wird sicherstellen, dass wir diese Krise überstehen und Chancen nutzen können, die eine nachhaltige, sichere und bezahlbare Energiezukunft schaffen.

Dieser Gastkommentar ist Teil einer Serie von Texten der WEF-Experten, die während des Jahrestreffens in Davos veröffentlicht werden. Die englischsprachige Version lesen Sie hier