Der Philosoph Fabian Scheidler datiert die Ursachen für die jetzigen Umweltkrisen Jahrhunderte zurück.
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"Wiener Zeitung": In Ihrem aktuellen Buch "Der Stoff, aus dem wir sind" zeichnen Sie ein düsteres Untergangsszenario für den Fall, dass die moderne Menschheit ihre Wirtschaftsweise nicht radikal ändert. Fühlen Sie sich jetzt durch aktuelle Ereignisse wie die Corona-Pandemie oder die Hochwasser in Mitteleuropa bestätigt?
Fabian Scheidler: Es ist nicht so, dass ich in die Apokalypse verliebt bin. Aber wir wissen tatsächlich, dass wir beim Klima, wenn wir gewisse Kipppunkte überschreiten, Prozesse in Gang setzen, die überhaupt nicht mehr beherrschbar sind. Was wir jetzt an Hochwasser sehen, hat damit zu tun, dass sich eine Luftströmung, die in der nördlichen Hemisphäre zirkuliert, der Jetstream, durch die Erderwärmung schon komplett verändert hat und zu extremen Wetterlagen führt. Und das ist erst der Anfang.
Bei weiterer Erwärmung steigen die Probleme exponentiell an. Die Effekte, die das auf das Klima hat, sind völlig unabsehbar. Die hochkomplexen, nicht linearen Kreislaufprozesse in der Natur lassen sich weder beherrschen noch kontrollieren. Das ist auch in anderen Bereichen der Fall. Bei der Biodiversität erreichen wir kritische Grenzen. Wir haben allein in Deutschland einen Verlust der Insektenmasse von 25 Prozent in nur 20 Jahren. Nun könnte man denken, ein paar Bienen oder Fliegen weniger, was macht das schon? Die sind allerdings für die Bestäubung von Nutzpflanzen entscheidend - und damit für unsere Ernährung.
In Ihrem Buch datieren Sie die Ursachen für die gegenwärtige Misere weit zurück, bis in die frühe Neuzeit. Nun gelten manche Denker, an denen Sie Kritik üben, als Begründer der modernen Wissenschaft. Was stört Sie an diesen Gelehrten?
Die moderne Wissenschaft, die vor 400 Jahren entstanden ist, hat sich zusammen mit einem ganz neuartigen Wirtschaftssystem entwickelt, dem kapitalistischen System. Die frühen Pioniere dieser Wissenschaft, von Galileo Galilei bis hin zu Newton, waren auch selbst eingebunden in die militärischen und ökonomischen Prozesse dieser Zeit. Sie haben Flugbahnen berechnet für Kanonenkugeln, Festungen konstruiert, Hydraulik betrieben, weil man das für die koloniale Eroberung der Welt brauchte. Es war eine zweckorientierte Wissenschaft. Diese Pioniere, die gewiss auch großartige Leistungen vollbracht haben, haben angenommen, dass die Welt wie eine Maschine funktioniert. Das ging bis hin zu Rene Descartes Behauptung, die Tiere wären Automaten - und dass auch der menschliche Körper nach mechanischem Prinzip funktioniere. Mittlerweile haben sich die Wissenschaften aber sehr weit von diesen ersten Annahmen wegentwickelt. Deshalb unterscheide ich in dem Buch scharf zwischen technokratischer Ideologie und Naturwissenschaften. Letztere sind heute, wenn man sich etwa die Quantenphysik ansieht und auch die moderne Biologie, etwa die Systembiologie und Biosemiotik, Wissenschaften von komplexen Zusammenhängen, von Feldern und dergleichen, die mit den mechanistischen Annahmen wenig zu tun haben.
Wenn es so ist, wie Sie sagen: Warum spukt diese Sicht der Dinge immer noch so stark in den Köpfen herum? Auch in den Medien wird der Sitz der Seele ja immer wieder in einem materiellen Substrat im Hirn gesucht, nach der Art: Die letzte Wirklichkeit ist nicht seelisch-geistig, sondern materiell.
Das Problem des Gegensatzes von Geist und Körper kommt aus der Maschinenmetapher. Die ist in der Physik aber mittlerweile komplett zusammengebrochen. Der alte Materiebegriff ist verschwunden. Schon Newton entdeckte etwa, dass die Gravitation auf Fernwirkung beruht, nicht auf Stößen von Körpern. Unser Universum besteht nicht auf Stößen von soliden Atomen, sondern auf Feldkräften, auf energetischen Beziehungen. Die berühmte Einstein’sche Formel e=mc2 bedeutet, dass jede Masse, jeder Körper in Energie verwandelbar ist. Die Quantenphysik zeigt, wie unvorstellbar seltsam diese Energiefelder sich verhalten. Zugleich ist der Ursprung unseres Bewusstseins, also unserer Innenwelten, in der Biologie nach wie vor ungelöst. Unser Universum ist viel rätselhafter, als viele glauben.
Sie beschreiben in Ihrem Buch Beispiele nachhaltiger Kreislaufwirtschaft, etwa in Bali, und schildern die Zerstörung eingespielter Systeme durch die technische Moderne. Dafür gibt es auch in Europa Beispiele. So berichtet etwa der Theologe Romano Guardini in den 1920er Jahren, wie die altehrwürdige Szenerie einer Landschaft am Comer See durch die Heraufkunft von Motorbooten und -rädern zerstört wurde. Er berichtet aber auch davon, wie sehr die dortigen Einwohner die Neuerungen begrüßten. Sie wollten auch an der Moderne teilhaben. Wollen Sie ihnen das verbieten?
Nein. Die moderne Technik hat ja auch wichtige Fortschritte gebracht. Dazu gehört zum Beispiel, dass wir beim Thema Klimawandel bestimmte Dinge ein Stück weit voraussehen können. Und technologische Entwicklungen wie erneuerbare Energien sind unentbehrlich für die Zukunft.
Auch die ökologisch nützlichen technologischen Errungenschaften sind freilich oft Früchte des Naturverständnisses der Neuzeit, das Sie in Ihrem Buch kritisieren. Nun haben die Errungenschaften der modernen Wissenschaft ebenso wie die des kapitalistischen Systems seit der Industrialisierung zu einem ungeheuren Wohlstandszuwachs geführt. Unsere Vorfahren mussten als Knechte und Mägde teils noch beim Vieh schlafen, die Kindersterblichkeit war hoch, die Menschen starben früh. Wenn man jetzt die Axt an dieses System legt - ist dann nicht auch der Wohlstand weg?
Es geht nicht darum, alles aus dem Fenster zu werfen und im Mittelalter neu anzufangen. Aber wir müssen aussteigen aus einer Wirtschaftsweise, die nicht existieren kann, ohne immer weiter zu wachsen. Heute kontrollieren 500 Aktiengesellschaften etwa 40 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung und zwei Drittel des Welthandels. Und diese Unternehmen haben in ihrer rechtlichen Konstruktion nur einen einzigen Zweck: das Kapital ihrer Anleger zu vermehren. Es gibt keine sozialen oder ethischen oder ökologischen Zielsetzungen. Und das nicht etwa, weil die Manager schlechte Menschen sind, sondern weil die Struktur dieser Unternehmen falsch ist. Deshalb brauchen wir andere ökonomische Institutionen, die dem Gemeinwohl verpflichtet sind und nicht dem Profit.
Und wie soll das gehen?
Das ist gar nicht so schwer oder utopisch. Solche Unternehmen gibt es schon. Die entscheidende Frage ist: Wie agiert der Staat? Bisher ist es so, dass der moderne Staat sehr stark verflochten ist mit dem Großkapital, mit den großen Unternehmen. Der Staat subventioniert heute die destruktivsten Branchen der Erde in ungeheurem Maß. Der Internationale Währungsfonds IWF sagt, dass wir die fossilen Brennstoffe, also Kohle, Erdöl und Erdgas, die für den Klimawandel verantwortlich sind, jedes Jahr mit 5.000 Milliarden Dollar subventionieren. Der Steuerzahler finanziert also heute die Zerstörung des Planeten. Und das müssen wir umdrehen. Der Staat muss jene Institutionen fördern, die dem Gemeinwohl dienen, die klimakompatibel sind, die die Biosphäre erhalten. Dazu gehört etwa auch der Gesundheits- und Bildungsbereich, wo dringend Personal benötigt wird. Die einst bedeutende deutsche Solarindustrie wurde seit den 2000ern von der Politik kaputtgemacht. Wenn man Subventionen in die richtigen Branchen überführt, könnte man viel bewirken.
Freilich haben auch Öko-Technologien oft negative Auswirkungen. Solarpaneele decken den Boden ab, Windräder töten Vögel - und was das Elektroauto betrifft, schreiben Sie selbst in Ihrem Buch, dass die Klimabilanz eines E-Autos kaum besser ist als die eines Verbrenners. Sie fordern deshalb eine radikale Einschränkung des Autoverkehrs. Wie wollen Sie das bewerkstelligen? Ist das noch demokratisch?
Durch technologische Änderungen allein ist diese Krise nicht zu bewältigen. Wir brauchen in der Tat weniger Verkehr. In den Städten würde das auch mehr Lebensqualität bedeuten - auf dem Land ist das was anderes, aber in den Städten können wir auf Autos weitgehend verzichten. Was die Frage betrifft, wie demokratisch das dann noch ist: Wir brauchen eine Erzählung, die zeigt, dass der ökologische Wandel, wenn man ihn sozial gerecht gestaltet, tatsächlich mit mehr Lebensqualität verbunden sein kann. Das bedeutet auch, dass die großen Investitionen, die für den Umbau nötig sind, nicht von den ärmeren Leuten bezahlt werden, etwa durch hohe Benzinpreise. Wir müssen das Geld dort hernehmen, wo es im Überfluss vorhanden ist, nämlich bei den oberen 10 Prozent, etwa den transnationalen Konzernen wie Amazon, die kaum Steuern zahlen. Wenn man die vernünftig besteuern und Subventionen umschichten würde, wäre das Geld für den Wandel da.
Ein solcher Wandel könnte aber gerade in der städtischen grünen Stammwählerschaft für ein bitteres Erwachen sorgen. Schließlich zelebrieren viele Anhänger der Grünen ihren global orientierten Lebensstil. Man reist gerne rund um den Globus, gibt sich weltoffen, isst Thai-Curry statt Bratwurst und zeigt auch sonst wenig Lust, seinen Radius auf die öde heimische Provinz zu begrenzen.<p style="font-weight: 400;">Tatsächlich gehören die meisten Grünwähler zu den mittleren und oberen Einkommensklassen. Und dieses Geld geben sie natürlich auch aus - zum Beispiel, um nach Brasilien auf eine Biofarm zu fliegen oder etwas in der Art. Ein solches Verhalten nennt man kognitive Dissonanz. Das führt dann auch zur Illusion in grünen Parteiprogrammen, man könne beides haben – einerseits auf 150 Quadratmeter Fläche wohnen, Fernflüge machen, aber auch das Klima retten. Das geht natürlich nicht. Da muss man dann auch ehrlich sein und sagen, bestimmte Dinge, Fliegen in die USA zum Beispiel, kann man dann vielleicht nur einmal im Leben machen - oder höchstens zwei- oder dreimal. Da sind tatsächlich Verzichtsleistungen gefragt. Aber es gibt dafür auch eine "Belohnung", nämlich die, dass wir den uns folgenden Generationen noch einen bewohnbaren Planeten hinterlassen. Und das ist mehr wert, als alle zwei Jahre nach Brasilien zu fliegen.