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Die Nebel von Tintagel

Von René Freund

Reflexionen
Von der Burg sind nur spärliche Reste erhalten, aber der Meerblick ist grandios.
© Foto: Freund

Die Burg des legendären Königs Artus in Cornwall ist von Geheimnissen umwittert. Manche konnten bis heute nicht gelüftet werden. Aber als Sehenswürdigkeit ist die Ruine beeindruckend.


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Was hätte König Artus wohl zu den brüllenden Schlachtrössern aus Blech gesagt, aus denen sich Menschen mit dunklen Augengläsern und seltsamen Sprechapparaten schälen? Was die Ritter der Tafelrunde zu den riesigen Schiffen auf Rädern, aus denen noch mehr Menschen quellen? Hätten sich die Herren des stolzen Tintagel je träumen lassen, dass dereinst Fremde aus dem fernen Asien, dass Sachsen, Bretonen, Normannen und Römer ihre Burg ganz ohne Waffen erstürmen?

Ein Pfund achtzig, etwa zwei Euro, sind auf dem Parkplatz von Tintagel zu entrichten. Das üblicherweise feucht-graue Cornwall lässt unter der strahlenden Mittagssonne all seine Farben spielen, die Grünschattierungen der Wiesen, das Türkisblau des Ozeans. Kein Hauch von den Nebeln von Avalon. Das ist fast schade, denn eine mystische Atmosphäre stellt sich im Sonnenlicht nicht ein. Die zahlreichen Esoterik-Shops, die die Hauptstraße des 700-Seelen-Ortes Tintagel säumen, bleiben heute leer, heilende Steine, Engelbilder und Ritterfiguren ungekauft. Die Besuchermassen - Tintagel Castle gehört neben dem Steinkreis von Stonehenge zum "English Heritage" und zu den meistbesuchten Sehenswürdigkeiten im Süden des Landes - stehen heute an den Imbissbuden Schlange, um Getränke zu erwerben.

Als erste Sehenswürdigkeit und beliebtes Fotomotiv hält das "Old Post Office" her, eine viktorianische Poststube in einem schiefergedeckten Steinhaus, dem man ansieht, dass es aus dem 14. Jahrhundert stammt - und dass das Wetter hier nicht immer so freundlich ist.

Im klaren Sonnenlicht

Der Weg Richtung Tintagel Castle führt über eine staubige Schotterstraße. John steht mit seinem alten Land Rover bereit, um müden oder gehbehinderten Touristen die zehn Minuten Fußmarsch zum Visitor’s Center zu ersparen. An die zwanzig Mal sei er heute schon gefahren, erzählt der große, grauhaarige Mann. Die Saison in Tintagel - Tindäschl, sprechen die Einheimischen - dauert bis in den späten Herbst, sagt John. Dann senken sich wieder die Nebel über Cornwall und seine zerklüftete Küste.

Uns freilich zeigt sich die Halbinsel, auf welcher die Burg einst stand, noch im klarsten Sonnenlicht. Die erste Enttäuschung über die recht mageren Mauerreste wird schnell von der Begeisterung über diese großartige Lage abgelöst.

Tintagel thronte einst auf zwei mit einer Hängebrücke verbundenen Steilklippen. Die ältesten Teile der Ruine befinden sich auf einer Halbinsel, einem Felsen inmitten von türkisgrünem Wasser und schäumender Gischt: Verständlich, dass dieser Felsblock im Atlantischen Ozean als Wächter der Küste und als schwer einnehmbar galt. Weniger verständlich ist freilich, warum Tintagel ausgerechnet hier erbaut wurde.

Denn die strategische Bedeutung dieses Platzes erschließt sich weder dem Historiker noch dem Laien. Weder gab es in der Nähe eine größere Stadt, die es zu verteidigen galt, noch lag Tintagel Castle auf der Einzugsroute der Feinde Cornwalls. Denn die kamen eher über den Landweg aus dem Nordosten oder per Schiff über den Ärmelkanal - nicht aber aus dem fernen, von Europäern noch nicht entdeckten Amerika.

Geheimnisvoll - und bei näherer Betrachtung immer geheimnisvoller - ist auch die Geschichte von Tintagel. Die meisten Mauerreste stammen aus dem 13. Jahrhundert und gehen auf eine Burg von Richard, Earl of Cornwall, zurück. Aber warum bloß hatte er sie hier, abseits von Handelswegen und Schifffahrtsrouten, erbauen lassen?

Die Macht der Mythen

Gemeinhin behauptet man ja , die Literatur hätte keinen Einfluss auf die Geschichte. Im Fall von Tintagel ist das definitiv falsch. Die Berühmtheit von Tintagel beginnt erst mit Literatur, und zwar mit der "Historia Regum Britanniae" des Geoffrey of Monmouth. Der Chronist erklärte da im Jahr 1136, König Artus wäre in Tintagel gezeugt und geboren worden. Das schrieben dann in den kommenden Jahrhunderten ungezählte Schriftsteller ab. Der nahe Marktflecken Camelford, wo sich heute ein kleiner Supermarkt und eine Tankstelle befinden, mutierte zum sagenhaften Königshof Camelot. Wegen der besonderen Ausstrahlung, die die Gegend durch die Sagen um Artus, Merlin und die Suche nach dem Heiligen Gral gewann, entstand auf Resten eines Bauwerks aus dem 6. Jahrhundert eine neue Burg.

Verantwortlich dafür war der erwähnte Richard von Cornwall, geboren 1209 in Winchester, gestorben 1272 in Berkhamsted nahe London. Richard, Sohn des englischen Königs Johann Ohneland, war zu seiner Zeit ein bedeutender Mann: Als jüngerer Bruder von Heinrich III. nahm er an zahlreichen Feldzügen teil. 1257 wurde er in Aachen zum Römisch-Deutschen Kaiser gekrönt. Da trotzte die Burg Tintagel bereits seit fast 30 Jahren dem Meer. Ob Richard sich jemals für längere Zeit dort aufgehalten hat, ist nicht bekannt, darf jedoch angezweifelt werden, weil Tintagel einfach zu weit von den Machtzentren entfernt lag.

Warum aber der Aufwand? Auch hier dürfte Macht eine Rolle gespielt haben, in diesem Falle nicht die geografisch-strategische, sondern die Macht der Mythen. Die Theorie scheint so einfach wie logisch: Richard ließ die Burg Tintagel erbauen, um sich in eine Reihe mit König Artus zu stellen, dessen Geschichte man sich damals in ganz Europa erzählte. In der Nachfolge von Geoffrey von Monmouth dichteten etwa Chrétien de Troyes und Hartmann von Aue ihre Versionen der Heldensagen um die Ritter der Tafelrunde, um Gawain, Lancelot, Parzival und Tristan. Wenn man es sich leisten konnte - und Richard von Cornwall konnte das - ergab es durchaus einen Sinn, Tintagel wieder aufleben zu lassen, denn es machte an den Höfen in Europa "etwas her", in der Nachfolge von Artus zu stehen.

Für die Richtigkeit der Theorie, wonach eigentlich die Artus-Sage zum Neubau im 13. Jahrhundert geführt hatte, spricht die Tatsache, dass die Burg nach Richards Tod verfiel. Sie war auch nicht als Festung gebaut worden, was neben der Erosion durch Meer und Stürme erklären mag, dass die erhaltenen Reste sich eher dürftig ausnehmen.

Tatsächlich: Der Rundgang über das steile, durch Stiegen und Holzstege gesicherte Gelände von Tintagel beeindruckt nicht durch die wenigen erhaltenen Mauern, sondern durch die landschaftliche Schönheit. In einer kleinen Bucht, wo sich einst der Hafen der Anlage befand, baden ein paar Jugendliche. Gleich daneben befindet sich "Merlins Höhle", nur bei Ebbe zu betreten - hier soll das Baby Artus laut einer Legende dem Druiden vom Meer übergeben worden sein, wohl eine Variation der jungfräulichen Geburt. Der Ausblick über die ganze Küste mit ihren steil abfallenden Klippen kann nur als imposant bezeichnet werden. Und einen Seehund bei der Jagd nach Fischen sieht man auch nicht alle Tage.

Der Weltbestseller

Die Anlage der Burg gefällt auch den französischen Jugendlichen, die sich gerade auf einem Lerncamp befinden, um Englisch zu lernen. Ihr Guide liest ihnen einen Absatz aus "Die Nebel von Avalon" vor, dem Weltbestseller von Marion Zimmer Bradley. In English, of course. Wir wollen hier die Übersetzung von Manfred Ohl und Hans Sartorius bemühen: "Tintagel . . . es gab immer noch Leute, die glaubten, die Burg auf den Klippen am Ende der weit ins Meer hinausragenden Landspitze sei durch die Magie des Alten Volks von Ys entstanden. Herzog Gorlois lachte darüber und sagte, wenn ihm solche Zauberkräfte zur Verfügung stünden, hätte er sie benutzt, um das Meer daran zu hindern, sich Jahr für Jahr weiter in die Küste hineinzufressen. In den vier Jahren seit ihrer Ankunft als Braut des Herzogs hatte Igraine mitangesehen, wie das Land, gutes Land, im Cornischen Meer verschwand." Ist es denkbar, dass Artus wie im Roman tatsächlich hier in Tintagel geboren wurde? Befand sich Artus’ Königshof im nahen Camelford? Hat es einen geschichtlichen Artus überhaupt gegeben?

Es mag wohl kein Zufall sein, dass man sich im England der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts wieder auf die Suche nach Spuren des legendären Königs machte. Den Zenith als Kolonial-Weltmacht hatte das Empire überschritten, die Wirtschaftskrise machte dem Land zu schaffen. Die Ausgrabungen unter Ralegh Radford ließen freilich keinen Rückschluss auf alte Größe und einen Königshof zu.

So entstand die Interpretation von Tintagel als Kloster aus dem 6. Jahrhundert. Dennoch, die Historiker blieben und bleiben untereinander weitgehend einig, dass Ende des fünften und Anfang des sechsten Jahrhunderts im Südwesten Englands ein keltischer Heerführer lebte, der sich den Sachsen siegreich entgegenstellte. Nur: Spuren gab es keine bis wenige. Tintagel - eine reine Legende?

Sensationeller Fund

Im Jahr 1998 sorgte eine Nachricht aus Cornwall für ungeheure Aufregung in der wissenschaftlichen Welt: Bei neuerlichen Grabungen in Tintagel hatte man ein Stück Schieferstein mit einer sensationellen Aufschrift gefunden: "Artognou" stand hier zu lesen, eine ursprüngliche Version des Namens Artus respektive Arthur.

Das Alter des Steins konnte bestimmt werden: Er stammt aus dem 6. Jahrhundert, so wie andere Funde der jüngsten Grabungen, etwa Glasschmuck, Amphoren und andere Töpferware. Dass diese Fundstücke teilweise aus Spanien und aus dem östlichen Mittelmeerraum stammen, mag ebenfalls als Hinweis auf Reichtum und eine rege Handelstätigkeit gelten.

War Tintagel also doch die Burg eines einflussreichen Fürsten, womöglich jene des König Artognou vulgo Artus?

Nun, eine reißerische Beantwortung dieser Frage wird wohl kaum möglich sein. Kompetente Historiker wie der Keltologe John Koch stellten eine Verbindung des beschrifteten Schiefersteins zu einem "historischen Artus" in Abrede. Fazit: Die Vergangenheit von Tintagel wird wohl weiterhin in den Nebeln der Geschichte verborgen bleiben.

Zu diesem Schluss kommt auch der Guide der französischen Jugendlichen: "Alles, was wir sagen können, ist: Möglichweise war dies einst die Burg von König Artus. Es gibt Indizien dafür, aber keine Beweise."

Irgendwann werden wohl auch die letzten Reste Tintagels vom Meer verschluckt werden. König Artus aber, soviel dürfen wir annehmen, wird weiterleben.

René Freund, 1967 in Wien geboren, lebt als Schriftsteller in Grünau im Almtal. Heuer erschien im Wiener Deuticke Verlag sein Roman "Liebe unter Fischen".