Permanente Reizüberflutung erhöht das Risiko, angriffslustig zu reagieren.
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Wien. Ein simples Angerempeltwerden in der U-Bahn. Ein Autofahrer, der bei Grün nicht gleich losfährt. Und der Chef, dessen Sekretärin den Kaffee zu wenig heiß serviert: Wutanfälle und nicht enden wollende Schimpftiraden sind die Folge. Das Aggressionspotenzial ist hoch in der Gesellschaft, es scheint sogar zu steigen. Erst diese Woche stieß ein 51-Jähriger eine Schwarzafrikanerin in Wien vor die U-Bahn, weil sie angeblich zu laut telefoniert hatte. Am Dienstag wurde ein 22-Jähriger am Wiener Straflandesgericht nicht rechtskräftig zu 18 Monaten Haft (eines davon unbedingt) verurteilt, weil er nach einem Streit an einer Kreuzung einen Autofahrer niedergestochen hatte.
Gleichzeitig wird Aggression in der Gesellschaft sozial immer weniger akzeptiert, die "g´sunde Watsch´n" und der Rohrstab in der Schule sind verpönt - ist das nicht ein Widerspruch? "Ganz im Gegenteil", sagt dazu die Linzer Psychiaterin Adelheid Kastner: Dadurch, dass die Möglichkeiten, Ventile für Aggressionen zu finden, reduziert werden, steige sogar die Angriffslust. "Die Wirtshausschlägereien von früher gibt es nicht mehr, heute ist gleich die Polizei da. Auch, dass Eltern ihre Kinder schlagen, ist nicht mehr gang und gäbe. Damit löscht man aber nicht die Aggressionen - sie sind weiterhin da", sagt Kastner.
Druck im Ballungsraum
Zudem werde heute viel weniger körperlich hart gearbeitet - ein weiteres verloren gegangenes Ventil der Gesellschaft von einst. Nur wenige hätten andere Ventile gefunden und "laufen zum Beispiel täglich kilometerweit oder graben den Garten um". Die meisten reagierten im Alltag schneller aggressiv. Eine Kleinigkeit genüge - und sie explodieren.
Verstärkt wird dieses hohe Aggressionspotenzial durch die stete Reizüberflutung vor allem in Ballungsräumen, wo viele Menschen auf engem Raum zusammenleben. "Überall ist es laut, das Handy läutet ständig, und laufend muss man Mails beantworten. Man lebt unter permanentem Informationsdruck", so Kastner. Viele hätten das Gefühl, nichts mehr auszuhalten und jeden Zusatzstress abwehren zu müssen.
Wie hoch die Hemmschwelle für Reizüberflutung und Aggressionen liegt, sei freilich eine Frage der Persönlichkeit jedes Einzelnen. Diese ist von Kindheit an verankert, betont Rolf Gößler, Vorstand der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Neurologischen Zentrum Rosenhügel in Wien. Dass die umstrittenen, gewaltsamen Videospiele Kinder aggressiv machen, stimme daher nur bedingt. "Besteht eine Bereitschaft für Suchtentwicklung und ist das Kind in einer emotional schwierigen Situation, kann zum Beispiel ein Ego-Shooter-Spiel die Aggressionen fördern. Ein ausgeglichenes, wohlbehütetes Kind wird davon nicht zu Gewalt angeregt." Die Art und Weise, wie Eltern und Umgebung mit Aggressionen umgehen, sei wesentlich für das Verhalten des Kindes.
Dass das Aggressionspotenzial generell steigt, merkt allerdings auch Gößler: "Die Zahl der schwierigen und aggressiven Kinder wächst massiv an, was zu einem Ressourcenmangel in der Kinder- und Jugendpsychiatrie geführt hat." Seiner Ansicht nach der Grund dafür: "Der Alltag an sich mit all seinen Herausforderungen und dem Druck, sich behaupten zu müssen. Das bereitet Stress - Kindern und Eltern."