Digitale Bücher verzeichnen seit relativ kurzer Zeit sensationelle Zuwächse bei Verkäufen und Marktanteilen. Ganz verdrängen werden die elektronischen Lesestoffe ihre papierenen Ahnen allerdings wohl noch länger nicht.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Mein Leben ging gerade den Bach runter, die Frau weggelaufen und vor gut drei Wochen dann auch der Job futsch. Das mit Mitte dreißig, ehrlich was will man(n) mehr." Ein Mann, dessen Leben komplett aus dem Ruder gelaufen ist - das ist der Stoff, aus dem das Romandebüt des Thüringers Michael Oliver Häusler gemacht ist.
Einstieg ins Geschäft
Freunde haben den 38-Jährigen, der bürgerlich auf den Namen Michael Schultz hört und laut Selbstdarstellung auf der eigenen Website "nach erfolgloser Weltumrundung auf Inlinern, einem Fehlversuch, Polizist zu werden und Koch-Stationen rund um Deutschland" heute in Weimar "als selbstständiger Gastronom lebt und arbeitet", gedrängt, diese Geschichte herauszubringen. Und flugs ist das nicht unflotte, leider durch eine Fülle orthografischer Fehler stark beeinträchtigte Werk erschienen. Nicht auf Papier und gebunden, sondern als E-Book.
Für ihn der ideale Einstieg ins Publizieren, wie Schultz erklärt. "Ich schreibe in meiner Freizeit, daher bezeichne ich mich als Hobby-Autor. Für den Moment würde ich es gar nicht wagen, mich anders zu bezeichnen. Natürlich könnte ich mir sehr gut vorstellen, regelmäßig zu schreiben und regelmäßig Bücher und Geschichten zu veröffentlichen. Und E-Books sind meiner Meinung nach ein guter Weg in diese Richtung."
"Schwanenvilla", wie Schultz/ Häuslers Roman heißt, ist bei Amazons Kindle Publishing Program erschienen. Eines von 200.000 E-Books die in Deutschland derzeit im Jahr veröffentlicht werden - - mit steil steigender Tendenz. Vom Anfänger bis zum Bestseller, vom Groschenroman bis zur Avantgarde, von den 99 Tipps zur Gartenzwergpflege bis zur wissenschaftlichen Abhandlung über die Auswirkungen von Gammastrahlen auf die Gezeiten gibt es nichts, das nicht in durchaus ansprechender Form auf Bildschirmen darstellbar wäre. Mittels einer Technologie, die wahrhaftig - sprich: physisch - schwere Lektüren wie "Krieg und Frieden" in ebenso wahrhaftigem Sinn er-tragbar macht.
Ein lange angesagter Trend, der fast schon wie eine Fata Morgana digitaler Heilsverkünder angemutet hatte, ist nun tatsächlich Wirklichkeit geworden - und das ziemlich schlagartig: E-Books boomen auf der ganzen Welt. Eine kurze Zeitspanne, deren Beginn ungefähr mit Anfang 2011 festgesetzt werden kann, hat ausgereicht, um ihre Verkäufe um dreistellige Raten zu beschleunigen.
Hauptprofiteur Amazon
Zugleich explodieren auch die Um- und Absätze der E-Reader und Tablets, über die sie ausgegeben werden. Motor und zugleich Hauptprofiteur dieser Entwicklung ist Amazon: Der E-Commerce-Riese bietet das größte und meistgenutzte Sortiment an E-Books an, hat mit dem Kindle das weitverbreitetste Lesegerät und offeriert mit dem Kindle Publishing Program ein attraktives und einfach zu bedienendes Programm zur Produktion und Vermarktung. Ironischerweise verkauft er von allen Online-Versandhäusern auch die meisten gedruckten Bücher.
In den USA sind die Umsätze von E-Books 2011 auf 2,07 Milliarden Dollar gegenüber 869 Millionen aus dem Jahr davor gestiegen. Allein im Bereich "Erwachsene Belletristik" sind die Einkünfte um 117 Prozent auf 1,27 Milliarden Dollar hochgeschnellt. Online-Verkäufer verzeichneten ein Wachstum von 35 Prozent, während Buchhandlungen (die man in martialisch materiellem Verbalduktus "brick-and-mortar stores", also Ziegel-und-Mörtel-Geschäfte nennt) Einbußen von 12,7 Prozent hinnehmen mussten.
E-Books halten in den USA bei einem Marktanteil von 20 bis 25 Prozent. Für die kommenden Jahre wird allerdings ein Verflachen der Wachstumskurve erwartet - ein erstes Indiz für eine Marktsättigung. In Großbritannien, das von allen Märkten den USA am nächsten kommt, liegt der Marktanteil von E-Books gegenwärtig bei knapp 13 Prozent.
Zügiges Wachstum
In Deutschland hält er aktuell bei zwei Prozent. Die Zahl wirkt im Vergleich zur angloamerikanischen Sphäre äußerst mickrig. Und doch legt sie Zeugnis ab von einem zügigen Wachstum. Denn bereits im ersten Halbjahr wurden 2012 genau so viele E-Books verkauft wie im ganzen Jahr davor, nämlich knapp 4,6 Millionen.
Österreich zeigte sich lange Zeit als ausgesprochen E-Book-resistent. Noch im November 2011 vermeldete der Präsident des Österreichischen Buchhandels, Gerald Schantin, in seiner Ansprache zur Eröffnung der "Buch Wien", der Anteil der E-Books an den gesamten Buchumsätzen in Österreich betrage weniger als ein Prozent. Heuer ist das volle Prozent geschafft.
"Der E-Book-Sektor zieht auch in Österreich an", bestätigt Stefan Mödritscher, Geschäftsführer des österreichischen Buchgroßhändlers Morawa, relativiert aber die Berichte von eindrucksvollen Zuwächsen: "Auf dem derzeitigen Niveau hören sich Steigerungsraten in Prozent ausgedrückt immer beeindruckend an. Von 1 auf 1,5 Prozent sind es halt gleich 50 Prozent!" Dass die Nachfrage aber steigt, ist Tatsache: "Wir bieten in den Buchhandlungen die Geräte zum Ausprobieren und Kaufen an. Das Kundeninteresse ist groß. Außerdem haben wir stetig wachsende Umsätze mit Downloads über unseren Webshop."
"Wir sehen nun auch im deutschen Sprachraum eine sehr dynamische Entwicklung bei E-Books", erklärt der Literaturwissenschafter und Marktanalytiker Rüdiger Wischenbart, dessen gerade erst im Oktober aktualisierter Online-Studie "The Global eBook Market: Current Conditions & Future Projections" viele der hier angeführten statistischen Daten entnommen sind. "Da stimmen meine Informationen breit überein, die ich von Verlagen aller Größen, Distributoren, aber auch aus Verkaufsentwicklungen bei Lesegeräten sammeln konnte. Ich erwarte mir auf dieser Basis einen sehr starken Schub mit dem Weihnachtsgeschäft, zuerst bei Lesegeräten - E-Reader wie auch Tablet Computer - und in der Folge bei Downloads von E-Books."
Schon im Vorjahr waren E-Reader und Tablets der Wachstumstreiber für den deutschen E-Book-Markt gewesen. Da nicht nur Wischenbart diesen Geräten für das heurige Weihnachtsgeschäft Rekordabsätze und eine Sogwirkung für die Downloads prophezeit, darf man auf die ersten Bilanzen 2013 gespannt sein.
In Österreich könnte sich diese Entwicklung in einer Art Light-Variante widerspiegeln.
Im deutschen Sprachraum ist das Thema E-Books allerdings viel stärker als im englischen von Copyright-Fragen und Ängsten vor Raubkopien überlagert. Martina Schmidt, Programmleiterin des Deuticke Verlags, stellt klar: "Wir haben keinerlei Vorbehalte gegen das E-Book -es ist eine Ergänzung zum Printbereich. Wichtig ist uns aber, dass das Urheberrecht gewahrt bleiben muss. Gegen Raubkopien gehen wir massiv vor, im Interesse des Unternehmens und der Autoren."
Erfahrungen aus anderen Metiers tun ein Übriges, um unter dem gemeinsamen Dach des Zsolnay/Deuticke-Verlags die Wachsamkeit gegen illegale digitale Umtriebe zu schärfen. Zsolnay-Programmleiter Herbert Ohrlinger: "Durch die neuen Technologien im Bereich Musik ist die Plattenindustrie ruiniert worden, was es Komponisten und Musikern unmöglich macht, von den Tantiemen zu leben. Die Verlage haben daraus gelernt, nicht die gleichen Fehler zu machen, und sind deshalb besonders aufmerksam, wenn es darum geht, ihnen von Urhebern übertragene Rechte zu schützen und zu wahren."
Das Medium E-Book ist noch nicht lange genug in größerer Verbreitung, um auf seine Rezeptionsweisen untersucht zu sein. Daher kann nur spekuliert werden, ob es unter Umständen zu bestimmten Genres und Formen ein natürliches Naheverhältnis hat. "Wenn das E-Book überhaupt einer Form entgegenkommt, dann eher dem Sach- und Fachbuch; innerhalb der Belletristik sehen wir keine Prioritäten für eine spezielle Gattung", sagen Schmidt und Ohrlinger unisono; "Lesefutter, also Titel, die man auch schnell als Taschenbuch mitnimmt", sieht Mödritscher als seinen potenziellen Verbündeten.
Während seine Kompatibilität mit stilistischen und inhaltlichen Spielarten des Schriftwerks noch im Unklaren liegt, hat das E-Book klar eine bestimmte Veröffentlichungsform forciert: den Selbstverlag. Dieser Fluchtweg für Autoren, die keine andere Möglichkeit zur Publikation haben oder sehen, hat sich durch das Internet zu einem Geschäftszweig entwickelt, der Verleger wie Schreiber nichts oder nur wenig kostet, oft ein nettes Taschengeld und im günstigsten Fall ordentliche Gewinne einbringt. Der Aufreger der Saison, E.L. James’ "Mama Porno"-Roman "50 Shades Of Grey", war ursprünglich im Selbstverlag erschienen, ehe ihn sich große Verlagshäuser sicherten.
Rentable Selbstverlage
Der US-Meinungsforscher Bowker hat eruiert, dass in den USA 2011 211.267 selbst verlegte E-Bücher erschienen sind, fast die Hälfte davon Belletristik. Bowker hat bereits Selbstverlags-Charts angekündigt.
Auch in Deutschland macht sich der Selbstverlag im wahrsten Wortsinne bezahlt: Der Journalist, Drehbuchautor und Schriftsteller Jonas Winner hat seine siebenteilige Thriller-Serie "Berlin Gothic" im Kindle Publishing Program veröffentlicht und über 100.000 mal abgesetzt.
Die "Armutschkerln" der Branche sind zu einem veritablen Wirtschaftsfaktor gewachsen. Durch seine Erfolge und schiere Produktionsmasse hat der Selbstverlag auch viel von seinem einstmals recht demütigenden Image verloren. Das eröffnet interessante Perspektiven für Autoren, die sich von herkömmlichen Verlagen oft wie lästige Bittsteller behandelt fühlen und mit vielerlei Begründungen abgewimmelt werden.
"Ich habe mich einmal für ein Jugendbuch an Ueberreuter gewandt", erinnert sich die Wiener Autorin Elisabeth Freundlinger. "Die sagten mir, ja, super gemacht, aber das passt gerade nicht in unsere Schiene, denn über eine Schulklasse haben wir eben etwas gemacht, das können wir gerade nicht brauchen. Aus solchen Marketingkriterien heraus wird man gerade auch bei renommierten Verlagen abgelehnt."
Freundlinger hat bereits einmal bei einem Printverlag publiziert, war bei diesem jedoch absolut nicht zufrieden. "Mir wurde damals sehr viel hineingeredet. Wegen der Druckkosten wurde mir das Buch auf die Hälfte zusammengekürzt - und dann war es im Handel gar nicht erhältlich, wenn Leute es kaufen wollten."
Eingestandenermaßen hat sich Freundlinger mit Kindles Publishing Program auf die leichte Muse verlegt: Ihre dort in den letzten Jahren veröffentlichten vier Romane verschreiben sich der Unterhaltung. "Aber es ist ebenso befreiend, dass mir keiner mehr dreinredet", betont sie. "Ich kann jederzeit einsehen, was zum Verkauf geht, wie viele Leute sich’s in der Leihbücherei ausborgen."
Bei Amazon verkauft Freundlinger pro Tag 15 bis 20 Bücher. In den letzten Monaten hat sie jeweils an die 1000 Euro damit verdient - ein nettes Zubrot zu den Einkünften aus ihrer Arbeit als freie Magazin-Journalistin und Lektorin - und mehr, als die meisten Autoren in kleinen Printverlagen verdienen.
Trotzdem. Das Flair der "richtigen" Buchveröffentlichung können keine noch so gut funktionierenden Online-Modelle bieten: "Ich glaube, jeder, der schreibt, träumt davon, ein Buch einmal in den Buchhandlungen liegen zu sehen, eine Lesung zu machen. Ich habe überhaupt noch nicht mit diesem Traum abgeschlossen", bekennt Elisabeth Freundlinger. Und Michael Schultz: "Für mich war das E-Book der schnellste und unkomplizierteste Weg, mein Buch zu veröffentlichen. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich beides machen. Das klassische Buch für alle, die Papier beim Lesen in den Händen halten möchten, und das E-Book für die ,neue‘ Generation Technik. Aber jeder Autor träumt davon, in einem ,großen‘ Verlag einen Vertrag zu bekommen und dort seine Bücher zu veröffentlichen. Es ist einfach ein tolles Gefühl, sein eigenes Buch gedruckt in den Händen zu halten!"
Diese Aussagen, für die sich mühelos breitflächige Bestätigung in der Literaturszene finden lässt, zeigen: Das Buch ist weit mehr als ein funktionaler Gegenstand, es ist eine Ikone, und damit ein emotional besetztes Thema. Sein Mythos und seine Aura als jahrhundertealter Träger unserer Kultur lassen sich nicht einfach vom Wind der Zukunftsgläubigkeit beiseite fegen, nicht einmal unbedingt von rationalen oder sogar ökonomischen Argumenten.
Symbol des Wandels
In erster Linie vor diesem Hintergrund ist die Aufregung zu verstehen, mit der Schriftsteller und deren organisierte Interessensvertreter auf einen Vorstoß der Österreichischen Nationalbibliothek reagierten, Schriftwerke künftighin nur mehr als E-Books zu speichern. Die Empörung der IG Autorinnen/Autoren, die bis zur Rücktrittsforderung an ÖNB-Direktorin Johanna Rachinger hochbrandete, richtete sich wohl nicht wirklich so sehr gegen eine sachlich durchaus diskussionswerte Idee als vielmehr gegen einen Schritt, der symbolisch mit dem Austausch der Insignien die Lossagung von der durch sie repräsentierten Kultur verbindet.
Es ist dies allerdings eine von jedem praktischen Alltagsbezug losgelöste Befürchtung. Dass das E-Book dereinst das leibhaftige, papierene Buch vernichten wird, fürchtet nicht einmal mehr der ängstlichste Kulturpessimist. Stefan Mödritscher: "Frei nach Umberto Eco: Ein Buch ist wie ein Löffel - den kann man auch nicht mehr verbessern. Ich möchte dies erweitern: Ersetzen kann man weder Löffel noch Buch."
Bruno Jaschke, geboren 1958, lebt als freier Journalist und Autor in Wien und ist ständiger Mitarbeiter der "extra"-"music"-Seite.
Siehe auch:
Buchmesse und Lesefest Literaturveranstaltung "BUCH WIEN"