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Die neue Sachlichkeit bei der Sozialhilfe

Von Simon Rosner

Politik
: fotolia/Rachael Arnott, esignus

Verhandlungen zur Mindestsicherung über mehr Sachleistungen. Das wäre ein Paradigmenwechsel.


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Wien. Für die nächste Verhandlungsrunde zur Mindestsicherung wurde ein recht bemerkenswertes Datum gewählt: der 25. April. Es ist der Tag nach der Bundespräsidentenwahl. Nun ist die Mindestsicherung ohnehin so ein Thema, bei dem sich die Regierungspartner fast täglich Unfreundlichkeiten ausrichten. Jüngster Höhepunkt war die Interpretation eines Gutachtens zur Mindestsicherung, das SPÖ und ÖVP grundverschieden bewerteten. Sollten sich nun die Wahlprognosen bewahrheiten und die zwei Koalitionsparteien mit ihren Kandidaten die Stichwahl verpassen, dürfte die Atmosphäre bei den Verhandlungen noch ein bisschen, nun ja, interessanter werden.

Da es sich bei der Mindestsicherung um eine 15a-Vereinbarung zwischen Bund und Ländern handelt, sind die argumentativen Frontlinien vielschichtig, was die Verhandlung noch zusätzlich erschwert. Aber immerhin gibt es bereits in einer Frage Konsens: Es soll künftig mehr Sachleistungen statt reinen Geldleistungen bei der Mindestsicherung geben.

"Liberaler Fortschritt"

Dass der Vorstoß von der ÖVP kam, ist dabei erstaunlich, denn bei der Familienförderung ist die Volkspartei strikt gegen eine Substituierung von Geld- durch Sachleistungen, was in der Familienpolitik wiederum von der SPÖ betrieben wird, etwa in ihrer Forderung nach mehr Angeboten von Kindergartenplätzen. Bei der Mindestsicherung sind die Perspektiven der Regierungsparteien quasi spiegelverkehrt, wobei die SPÖ eben auch rasch Verhandlungsbereitschaft signalisiert hat.

In ihrer Grundidee stellt die vorliegende provisorische Einigung aber einen nicht unerheblichen Richtungswechsel in der heimischen Sozialpolitik dar. "Geldleistungen sind ein liberaler Fortschritt gewesen. Überall in Europa ist es in diese Richtung gegangen", sagt Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie und Mitbegründer der Armutskonferenz.

Geht es jetzt wieder ein paar Schritte zurück? In diesem Zusammenhang könnte man vielleicht auch die Diskussion über eine Anrechnung von Spendengeldern bei Förderungen für Hilfsorganisationen als den Versuch einer Privatisierung staatlicher Sozialleistungen verstehen. Oder genauer: einer Re-Privatisierung, denn Fürsorge war vor der industriellen Revolution eine rein private Angelegenheit.

Letztes Sicherungsnetz

Erst als sich Mitte des 19. Jahrhunderts gesellschaftlich durchsetzte, dass die Existenz von Armut nicht bloß Schicksal oder gar nur selbst verschuldet, sondern tatsächlich systemimmanent ist, wurde Fürsorge auch als eine Aufgabe (auch) von Staat oder Gemeinde verstanden. Wobei es anfangs nur um Sachleistungen ging, etwa die Einrichtung von Armenhäusern oder Ausspeisungen. Dies änderte sich sukzessive in der Zweiten Republik mit der Entwicklung von sozialen Sicherheitssystemen, die Armut präventiv bekämpfen sollten.

Die Mindestsicherung gibt es seit 2010. In ihrer Konstruktion stellt sie das letzte Netz dar, das jene auffangen soll, die durch vorgelagerte soziale Sicherungssysteme rutschen. Wer prekär gearbeitet hat, wird im Fall von Arbeitslosigkeit nur so geringe Versicherungsleistungen erhalten, dass die Mindestsicherung herhalten muss, um Armut zu verhindern.

Geldleistungen haben dabei grundsätzlich zwei Vorteile. Sie ermöglichen den Beziehern einen größeren Spielraum in der Lebensgestaltung, sind also im Vergleich zu Sachleistungen ein Zugeständnis des Staates an die Eigenverantwortung. Der zweite Vorteil ist, dass es die Steuerzahler günstiger kommt. In der Ökonomie ist es unstrittig, dass Sachleistungen teurer sind, um das gleiche Nutzenniveau zu erhalten.

Es gibt jedoch Ausnahmen, von denen bereits Gebrauch gemacht wird. So wird im Einzelfall, etwa bei spielsüchtigen Beziehern der Mindestsicherung, die Miete direkt überwiesen und die Geldleistung entsprechend gekürzt. Dadurch soll verhindert werden, dass die Miete im Kasino landet und der Spielsüchtige Gefahr läuft, delogiert zu werden. Ähnlich wird auch bei Lebensmittelgutscheinen argumentiert, die schädliches Verhalten verhindern sollen (Alkoholkonsum).

Keine Lebensmittelbons

In dem von der Regierung beauftragten Gutachten schreibt der Sozialrechtler Robert Rebhahn von der Universität Wien: "Die Substitution von Geld- durch Sachleistungen verringert die Autonomie und Wahlmöglichkeiten der Leistungsbezieher. Er vergrößert aber die Wahrscheinlichkeit, dass die betreffenden Bedarfe tatsächlich gedeckt werden."

In Österreich sind Lebensmittelgutscheine kein Thema. Zumindest noch nicht. Der Verwaltungsaufwand wäre zu hoch, zudem werden sie von SPÖ und ÖVP als stigmatisierend empfunden. Sachleistungen könnten Wohnungen sein, auch Energiekosten sowie eine Befreiung von Beiträgen für die Nachmittagsbetreuung bei Kindern. Angedacht ist ein ungefähres Verhältnis von 50:50 zwischen Geld- und Sachleistungen.

Hintergrund bei diesen Überlegungen ist die Fluchtwelle, denn Asylberechigte haben Anspruch auf die Mindestsicherung. Sach- und kostenlose Dienstleistungen sollen dabei die Integration befördern. Offenbar nimmt die Politik an, dass bei Geldleistungen weniger der Integration dienliche Ausgaben von den Flüchtlingen priorisiert werden könnten. In erster Linie will man damit wohl Überweisungen in die Herkunftsländer unterbinden.

Pauschale Differenzierung?

Der Großteil der Mindestsicherungsbezieher muss sich freilich nicht integrieren. Der Anteil der Flüchtlinge beträgt derzeit nämlich nur rund zwölf Prozent, wobei die Tendenz nach oben geht. Es offenbart aber auch ein Problem dieser Sozialleistung. Denn der überwiegende Anteil bezieht die Mindestsicherung nur kurz. Es sind Menschen, die im Arbeitsleben stehen, jedoch prekär beschäftigt sind und immer wieder Phasen der Arbeitslosigkeit erleben. Flüchtlinge, die hier ein neues Leben aufbauen und Deutsch lernen müssen, haben andere Bedürfnisse und benötigen eben auch andere Maßnahmen als solche Kurzzeitbezieher oder Personen, die nicht arbeitsfähig sind.

Deshalb hat der Gesetzgeber die Mindestsicherung auch durch das Adjektiv "bedarfsorientiert" ergänzt. Eine Differenzierung der Leistungen nach Personengruppen ist aber juristisch heikel, wie aus dem Gutachten auch hervorgeht. Sachleistungen nur auf Flüchtlinge zu beschränken sei dann unzulässig, so Rebhahn, wenn man "von einem strikten Gleichbehandlungsgebot" ausgehe. Zäumt man jedoch das Pferd rechtlich von hinten auf und geht von einem Diskriminierungsverbot aus, dann "könnte wohl zwischen der Unterkunft und der Deckung des sonstigen Lebensbedarfes unterschieden werden", schreibt Rebhahn. Diese juristische Lesart würde es ermöglichen, Flüchtlingen Wohnraum zur Verfügung zu stellen und entsprechend Geldleistungen zu kürzen.

Wien will Einzelfall prüfen

Rebhahn schreibt aber auch: "Bei der Deckung des sonstigen Lebensbedarfes ist ein Grund für eine Differenzierung nicht ersichtlich." Womit dann doch fraglich scheint, ob man Flüchtlinge generell anders behandeln darf, also etwa allen syrischen Eltern Gutscheine für Nachmittagsbetreuung ihrer Kinder geben und ihnen im entsprechenden Ausmaß Geldleistungen kürzen kann.

Wiens Sozialstadträtin Sonja Wehsely (SPÖ) hat bereits klargemacht, dass sie eine Differenzierung nur über eine Einzelfallprüfung akzeptieren werde. Wie im zuvor erwähnten Beispiel eines spielsüchtigen Beziehers ist eine Bedarfsorientierung schon heute möglich, aber eben nur individuell. Sie pauschal auf alle Flüchtlinge anzuwenden, ist rechtlich zumindest umstritten. Konsens hin oder her - da herrscht also doch noch Klärungsbedarf.