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Eine gar nicht so schöne neue Nullsummenwelt entsteht, chronische Schwäche Europas ist Teil dieses Prozesses.
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München/Wien. Willkommen in der schönen neuen Nullsummenwelt (© Gideon Rachman, "Financial Times"). Des einen Vorteil ist des anderen Nachteil. Die Globalisierung sollte die Welt zusammenführen, doch jetzt gilt die Maxime: Jeder gegen jeden.
Nirgendwo wurde diese Realität sichtbarer als bei der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz: nationaler Egoismus statt Kooperationsgeist, Schadenfreude statt Hilfe bei der Problemlösung, aneinander Vorbeireden statt Dialog.
Und niemand demonstrierte das besser als Russlands Premier Dmitri Medwedew, der in einem Interview mit dem deutschen "Handelsblatt" das Wort "Weltkrieg" in den Mund nahm und am Podium in München dann vor einem "neuen Kalten Krieg" warnte. Das aus dem Mund eines Premiers zu hören, dessen Land mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine die Saat für genau diesen neuen Kalten Krieg gelegt hat, ist bei allerfreundlichster Interpretation zumindest als unredlich zu werten.
Für Medwedews Bezeichnung der EU-Flüchtlingspolitik als "kolossalen Fehler", der die europäische Identität bedrohe und rechten Parteien nutze, ist das Prädikat heuchlerisch angebracht. "Um ganz offen und ehrlich zu sein: Ich empfinde einfach Mitleid mit Europa", sagt Premier Medwedew dem US-Nachrichtenmagazin "Time".
Medwedew vergisst zu erwähnen, dass Russlands Bombardements auf Ziele um Aleppo den Flüchtlingsstrom, der sich aus Syrien Richtung Türkei ergießt, wieder hat anschwellen lassen. Und der russische Premier verschweigt, dass einflussreiche Kreise in Russland enge Kontakte zu Rechtspopulisten in Österreich, Ungarn und Frankreich pflegen.
Westliche Geheimdienstquellen sprechen gar von einer Destabilisierungskampagne Moskaus mit dem Ziel, die Europäische Union zu spalten. Nach dieser Interpretation wäre die Unterstützung von Rechtspopulisten Teil des Hybrid-Krieges, in dem Russland sich längst mit dem Westen befindet.
Der russische Regierungschef hat die Vorwürfe, sein Land wolle mit der Flüchtlingskrise Stimmung gegen Europa machen, allerdings zurückgewiesen. "Wir können nicht und haben auch nicht vor, aus der Anti-Migranten-Stimmungen Profit zu schlagen. Wir sprechen einfach offen davon, wo hier eine Gefahr steckt", sagte Medwedew.
Wäre Medwedew die berühmte Kinderbuchfigur Pinocchio des italienischen Autors Carlo Collodi, wäre er mit einer langen Nase aus München abgereist.
Lange Nasen in München
Ehrlichkeit ist eben keine politische Kategorie: Das hat auch der saudi-arabische Außenminister Adel bin Achmed al-Dschubeir eindrucksvoll unter Beweis gestellt, als er am Podium in München doch glatt behauptete, Saudi-Arabien habe keinerlei politische Ambitionen außerhalb seiner Landesgrenzen. Wenn das so ist, welchem Zweck dient die Stationierung saudi-arabischer Kampfbomber am türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik, die schon bald Angriffe in Syrien fliegen sollen? Und warum bombardieren saudi-arabische Streitkräfte Ziele im Jemen? Saudi-Arabien befindet sich mit dem Iran in einem Kalten Krieg, der längst in heiße Stellvertreterkriege in Syrien, dem Irak, Bahrain, dem Jemen und dem Libanon übergeschwappt ist. Es kann also keine Rede davon sein, dass Saudi-Arabien keine politischen Ambitionen der Landesgrenzen verfolgt.
Al-Dschubeirs türkischer Amtskollege Mevlüt Çavusoglu ist da schon ehrlicher, wenn er den türkischen Zeitungen "Yeni Safak" und "Haber" gegenüber zu Protokoll gibt: "Wenn es eine Strategie (gegen die Dschihadistenmiliz Islamischer Staat, IS) gibt, könnten die Türkei und Saudi-Arabien einen Einsatz am Boden starten." Was Çavusoglu allerdings nicht dazusagt: Für Ankara ist der wahre Feind nicht Daesh - der Islamische Staat -, sondern die syrische kurdenmiliz PYD, die enge Kontakte zur in der Türkei operierenden kurdischen Schwesterorganisation PKK pflegt. Die Türkei hat schon bisher herzlich wenig unternommen, um Daesh das Handwerk zu legen, sondern will mit aller Kraft das Entstehen eines Kurdenstaates in Syrien verhindern.
Was in München ebenfalls deutlich geworden ist: Deutschland ist einmal mehr die "Macht in der Mitte", wie der deutsche Politikwissenschafter Herfried Münkler sein Buch über die Rolle Deutschlands in der Welt übertitelt hat.
Der Exportweltmeister und der Wirtschaftsmotor Europas hat Interesse an guten Beziehungen sowohl zu seinem wichtigsten Energielieferanten Russland wie auch zum wichtigsten Überseehandelspartner (und zweitwichtigstem Exportland nach Frankreich) USA. Deutschland - und damit auch Deutschlands wichtigster Wirtschaftspartner Österreich - haben null Interesse an der Nullsummenwelt, wie sie derzeit im Entstehen ist.
Der deutsche Außenminister Frank Walter Steinmeier betätigte sich in München folgerichtig als Moderator und Interpret Medwedews und versicherte, der russische Premier sei bei seinem "Weltkrieg"-Sager im "Handelsblatt" missverstanden worden. Und Steinmeier bekräftigte die Bereitschaft Deutschlands, Flüchtlingen aus Syrien weiter hilfreich zur Seite zu stehen. Eine Abschottung Europas sei schlicht nicht möglich, meinte er. Doch in der Flüchtlingsfrage tritt Deutschland zwar als Betroffener, nicht aber als Akteur in Erscheinung: Die Bewältigung der Flüchtlingskrise liegt vielmehr an Syrien selbst, an der Türkei, den USA, dem Iran und Russland. Und damit ein Europa ohne Grenzen eine Überlebenschance hat, müssen die EU-Außengrenzen besser gesichert werden. Und zuallererst braucht es eine Waffenruhe in Syrien.
Aber der Waffenstillstand, den US-Außenminister John Kerry verkündet hat, gründet wohl eher auf Wunschdenken als auf Fakten und wurde bereits Stunden danach von den Konfliktparteien in Frage gestellt. Die Türkei erweist sich nicht gerade als guter Partner der EU: Im Syrien-Konflikt ist Ankara einer der Kriegstreiber und hat der EU Hilfsgelder im Gegenzug zu stringenteren Grenzkontrollen abgetrotzt.
Die USA, die mit ihrem Angriffskrieg auf den Irak die Büchse der Pandora geöffnet haben, lassen die Europäer im Stich: Weder übt Washington mäßigenden Druck auf seine Verbündeten Saudi-Arabien oder Türkei aus, sich aus dem Krieg in Syrien herauszuhalten, noch leisten die USA nennenswerte Hilfe bei der Unterstützung der syrischen Flüchtlinge. Die - zweifellos begrüßenswerte - Erreichung des Atomabkommens mit Teheran war der US-Außenpolitik offenbar ebenfalls wichtiger, als den Iran in Syrien in die Schranken zu weisen.
Einer der Gründe der neuen Weltunordnung ist die Schwäche Europas: Noch nie seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl am 23. Juli 1952 in Paris ist der Kontinent politisch derart fragmentiert und handlungsunfähig. Europa ist nicht in der Lage, seine wirtschaftliche Macht in politischen Einfluss zu übersetzen, und schafft es auch nicht, Stabilität in seine Randzonen (Ukraine, Naher Osten) zu exportieren. Ein geeintes Europa wäre ein Antiserum zur Bekämpfung der Nullsummenwelt-Krankheit. Leider gibt es kein Leben im Konjunktiv.
Gideon Rachman, "Financial Times"
"Handelsblatt": Streit über Bodentruppen: Russlands Premier warnt vor "Weltkrieg" wegen Syrien